Zweifel am „Endsieg“

Im März 1945 ordnete Hitler die Zerstörung der gesamten Infrastruktur an – ausgerechnet Rüstungsminister Albert Speer verhinderte aber maßgeblich die Ausführung des so genannten „Nero-Befehls“.

Donnerstag, 21. Januar 2010
Heiner Lichtenstein

„Der Kampf um die Existenz unseres Volkes zwingt auch innerhalb des Reichsgebietes zur Ausnutzung aller Mittel, die die Kampfkraft unseres Feindes schwächen und sein weiteres Vordringen behindern… Ich befehle daher: 1) Alle militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören. 2) Verantwortlich für die Durchführung dieser Zerstörungen sind die militärischen Kommandobehörden für alle militärischen Objekte einschl. der Verkehrs- und Nachrichtenanlagen, die Gauleiter und Reichsverteidigungskommissare für alle Industrie- und Versorgungsanlagen sowie sonstige Sachwerte; den Gauleitern und Reichsverteidigungskommissaren ist bei der Durchführung ihrer Aufgabe durch die Truppe die notwendige Hilfe zu leisten.“

Diesen historischen Vernichtungsbefehl Hitlers vom 19. März 1945 veröffentlichte der britische Historiker Ian Kershaw in seiner berühmten Dokumentation „Hitler 1936 – 1945“, die im Jahr 2000 in deutscher Übersetzung in der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart erschien. Kershaw hat das Papier in den Protokollen des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg gefunden und zwar in den Beweisen für oder gegen Albert Speer (IMT Bd. 91, S. 430). Hitlers Befehl gehörte zu den Speer-Dokumenten, weil Speer es war, der maßgeblich verhindert hat, dass dieser Befehl ausgeführt wurde. Ihm, Speer war es nämlich gelungen, die Verantwortung für die Ausführung dieses Befehls zu bekommen – allerdings nicht von Hitler persönlich, sondern von den zuständigen Gauleitern. Sie waren schließlich die obersten Repräsentanten Hitlers.

Albert Speer, Hitlers Rüstungsminister und oberster Architekt, galt als einziger Mann in der Reichsregierung, der immerhin eine Art von Freundschaft zu Hitler hatte aufbauen können. Deshalb war Hitler auch bodenlos enttäuscht, als Speer ihm im März 1945 erklärte, er glaube nicht mehr an einen deutschen Sieg.

In dem Film „Der Untergang“ wird die Szene ausführlich gespielt, die Joachim C. Fest in seinem Buch über den Diktator beschreibt. (J.C. Fest, „Hitler“, Frankfurt/Wien/ Berlin 1973, S. 995 ff.) Am 18. März 1945 hatte Speer Hitler eine Denkschrift überreicht, in der er ankündigte, die deutsche Wirtschaft werde binnen kurzem vollständig zusammenbrechen. Speer erinnerte sich später an Hitlers Reaktion auf seine Denkschrift so: Hitler habe erklärt, „… es sei besser, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Denn das Volk hätte sich als das schwächere erwiesen und dem stärkeren Ostvolk gehöre dann ausschließlich die Zukunft. Was nach dem Kampf übrig bleibe, seien ohnehin nur die Minderwertigen; denn die Guten seien gefallen.“ (Fest, ebd., S. 999) Hitler beschwor Speer geradezu, doch an den „Endsieg“ zu glauben, aber der blieb bei seiner Meinung. Darauf Hitler: „Wenn Sie wenigstens hoffen könnten, dass wir nicht verloren haben, … dann wäre ich zufrieden.“ Speer erbat sich eine Bedenkzeit von 24 Stunden. Hitler, so Fest, zeigte sich so bewegt, dass er ihm sogar einen Teil der entzogenen Vollmachten zurück gab.“ (Fest, ebd.) Tatsächlich war Speer bereits unmittelbar nach der Jahreswende 1944/1945 von der Niederlage Deutschlands überzeugt.

Von den Gauleitern, mit denen es Speer nun zu tun bekam, war nur einer dafür, den „Nero-Plan, wie er nun genannt wurde, umzusetzen: Friedrich Karl Florian, Chef des Gaus Düsseldorf und damit Herr über das Ruhrgebiet mit seinen ungezählten Schachtanlagen, Brücken, Schienenwegen, Kanälen, Straßen und Industriebetrieben. Er konnte allerdings nichts mehr ausrichten, weil der Chef dieses Wehrkreises, Generalfeldmarschall Walter Model, jede Unterstützung verweigerte und Speer dem General den Rücken freihielt. Außerdem kam die britische Armee im Vormarsch auf das Ruhrgebiet zügiger als erwartet voran und konnte bald Düsseldorf, Essen und das gesamte Revier schnell befreien. Damit verlor der „Nero-Befehl“ – benannt nach dem zerstörungswütigen römischen Kaiser Nero – ohnehin jede Chance, mit der Hitler dem Volk jedwede Grundlage für dessen Weiterleben nach der Befreiung rauben wollte. Grund genug, daran zu erinnern.

Kategorien
Tags