Wie die Polizei die Kontrolle über den rechten Mob verlor

Nachdem bereits am Sonntag rechte Hooligans und Neonazis in der Chemnitzer Innenstadt wüteten, mobilisierte gestern die Lokalpartei „Pro Chemnitz“ zu einer Demonstration in das Stadtzentrum. Auf Seiten der Polizeidirektion hieß es noch kurz zuvor, man sei vorbereitet auf das, was kommt. Die angekündigte „Mahnwache“ eskalierte jedoch schnell und es spielten sich Szenen ab, die an Hogesa erinnerten. Eine hilflose und überfordert agierende Polizei ließ die Rechtsextremen gewähren – und gab ihr Gewaltmonopol zeitweise ab.

Dienstag, 28. August 2018
Redaktion
Immer wieder wurden Medienvertreter in Chemnitz bedroht und mussten teilweise ihre Arbeit einstellen, Foto: Tim Mönch
Immer wieder wurden Medienvertreter in Chemnitz bedroht und mussten teilweise ihre Arbeit einstellen, Foto: Tim Mönch
Man wollte bei „Pro Chemnitz“ anscheinend den Drive ausnutzen, der nach den rechten Ausschreitungen vom Vortag noch nachwirkte. Im Laufe des Tages brachte die rechtspopulistische Wählervereinigung um Szeneanwalt Martin Kohlmann einen Aufruf zu einer Gedenk-Kundgebung in Umlauf. Schnell wurde der Beitrag tausendfach in sozialen Medien geteilt, bekannte Neonazis wie Tommy Frenck oder Dieter Riefling verbreiteten ihn und auch Aktivisten der Identitären Bewegung kündigten sich an.

Was ist passiert?

Die massive Mobilisierung in sozialen Medien machte sich schließlich bemerkbar: Vor dem Karl-Marx-Monument versammelten sich zuerst einige hundert, später mehrere tausende rechte Demonstranten. Darunter waren nicht nur Aktivisten und Anhänger aus dem Pegida-Umfeld, sondern vor allem Hooligan-Gruppierungen und Neonazis von Kameradschaftsszene, über NPD bis zur Kleinstpartei Der Dritte Weg, die mit einem eigenen „Block“ auftrat. Bekannte Gesichter der Szene wie Patrick Schröder oder David Köckert zeigten sich neben rechtspopulistischen Aktivisten wie Leyla Bilge und Vertretern der Initiative „Kandel ist überall“. Schätzungen reichen von 5.000 bis 7.500 Personen – und mit der Zahl der Teilnehmer stieg auch deren Aggressionspotential. Schlagartig strömten gewaltbereite Rechtsextreme in Richtung des Gegenprotests, es flogen Glasflaschen und Pyrotechnik aus der Menge, die Sicherheitskräfte rückten immer weiter zurück, ließen sich wegdrängen. Unter den Gegendemonstranten brach zwischenzeitlich Panik aus, als Viele versuchten, sich vor den Wurfgeschossen in Sicherheit zu bringen. Die Situation wurde unübersichtlicher, während die Polizei zusehends die Kontrolle über die enthemmte Masse verlor.


Auch rechtsextreme Parteien waren mit Plakaten und Bannern vor Ort; Foto: Tim Mönch

Gleichzeitig formierte sich aus der Kundgebung heraus ein Demonstrationszug, der unkontrolliert vorrückte. Die unterbesetzten Polizeieinheiten sicherten den Aufmarsch nur sporadisch ab. Zu einem Abbruch des Marsches – angesichts der ausufernden Gewalt – kam es jedoch nicht. Über unzählige Meter stand nichts zwischen den aufgebrachten Rechtsextremen, Passanten und Pressevertretern. Kaum verwunderlich, dass sich in dieser Gemengelage kleine Gruppen von gewaltbereiten Neonazis absetzen konnten und vermummt Jagd auf Journalisten machten. Später am Abend sollten sie Erfolg damit haben: Einem Medienvertreter wurde die Nase zertrümmert.

Polizeieinsatz endet chaotisch

Dieses Bild sollte sich im weiteren Verlauf der Demonstration fortsetzen. Morddrohungen und der verbotene Hitlergruß in Armabstand zu Polizeibeamten wurden schlicht ignoriert und selbst Teilnehmer, die sich mit Quarzsand-Handschuhen bewaffnet von der Versammlung entfernten und Umstehende verfolgten, wurde mit Achselzucken quittiert. Böllerwürfe in direkter Nähe der Beamten wurden scheinbar hingenommen. Man habe genug zu tun, hieß es seitens der Bereitschaftspolizisten. Neonazis und gewaltsuchende Hooligans hatten so maximale Bewegungsfreiheit. Beobachter fühlten sich an die Hogesa-Ausschreitungen in Köln erinnert. Damals gingen etwa Bilder von umgeworfenen Polizeiwagen durch Deutschland. Je weiter der Abend fortschritt, desto unüberschaubarer wurde die Situation in der Chemnitzer Innenstadt. Teile der rechten Demonstration verstreuten sich in der Umgebung und spätestens nach der Auflösung der Endkundgebung strömten mehrere hundert Neonazis in die umliegenden Stadtteile. Angesichts mehrerer gewalttätiger Übergriffe auf Gegendemonstranten, brachen auch die meisten verbliebenen Pressevertreter ihre Arbeit ab. Ein unbegleiteter Aufenthalt im Bereich war mangels Polizeischutz nicht sicher.


Mit einsetzender Dunkelheit verlor die Polizei zunehmend die Kontrolle über die Lage; Foto: Tim Mönch

Dabei betonte die Polizeipräsidentin von Chemnitz, Sonja Penzel, auf einer Pressekonferenz am Nachmittag noch „ausreichend Kräfte angefordert“ zu haben und „gut auf die Einsatzlage heute Abend vorbereitet“ zu sein. Die Behörde ruderte nach Ende der Demonstration vorsichtig zurück: Man müsse sich eingestehen, die Teilnehmerzahl unterschätzt zu haben, so ein Pressesprecher der Polizeidirektion nach Ende der Versammlungen. Reaktionen aus Regierungskreisen waren bis jetzt nicht zu vernehmen. Zudem haben freie Journalisten die sächsische Polizei schon am Vorabend auf die massive Mobilisierung hingewiesen, anscheinend ohne ernst genommen zu werden. Mehrere Mitglieder des Landtags, darunter Juliane Nagel (Linke) und Valentin Lippmann (B90/ Grüne), haben nun angekündigt, die Vorgänge hinter dem Polizeieinsatz parlamentarisch aufarbeiten zu wollen. Der Ausgang der Veranstaltung dürfte sich für deren treibende Kräfte gleich als doppelter Erfolg erweisen: Einerseits für die Neonazi-Szene, die sich offen über die verhasste „Staatsgewalt“ hinwegsetzen konnte. Und Andererseits für die Akteure hinter „Pro Chemnitz“. Schließlich konnte die Partei mit der Demonstration erheblich an Aufmerksamkeit gewinnen und im vermeintlich bürgerlichen Milieu nach Unterstützern „fischen“. Wie sich die Lage in Chemnitz in den kommenden Tagen entwickeln wird, ist noch unklar, Beobachter und Szenekenner warnen allerdings, dass die Ereignisse am Montag neue Ausschreitungen umso wahrscheinlicher machen.
Kategorien
Tags