Wahl zur Nationalversammlung

Wahlen in Frankreich: „Rassemblement National“ zieht in Parlament ein

Dienstag, 21. Juni 2022
Bernard Schmid
Marine Le Pen mit ihrer Partei "Rassemblement National" ist nun drittstärkste Kraft im Parlament. Foto: © European Union 2015 - European Parliament, CC BY-NC-ND 2.0
Marine Le Pen mit ihrer Partei "Rassemblement National" ist nun drittstärkste Kraft im Parlament. Foto: © European Union 2015 - European Parliament, CC BY-NC-ND 2.0

Die bisherige Erfolgsgrundlage fiel weg, doch der Erfolg stellte sich ein, in beinahe durchschlagender Weise. Ungefähr so ließen sich die Ergebnisse des französischen rechtsextremen „Rassemblement National“ (RN, früher „Front National“) bei den diesjährigen Parlamentswahlen vom 12. und 19. Juni in prägnanter Kürze zusammenfassen.

Aus den Wahlen ging die extrem rechte Partei mit voraussichtlich 89 Sitzen hervor. Erstmals seit 1988 erreicht die parlamentarische Vertretung der extremen Rechten in der Nationalversammlung dadurch Fraktionsstärke, wofür mindestens fünfzehn Sitze erforderlich sind. Zuvor verfügte der damalige FN über nur zwei Mandate in der Legislaturperiode von 2012 bis 2017 und sieben in der darauffolgenden.

Relative Mehrheiten und rechtsextreme Störmanöver

Die wahlpolitische Erfolgsbasis der extremen Rechten, das war bis vor kurzem die Existenz sogenannter triangulaires (Dreierkonstellationen). Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das in Frankreich unter dem – vor 1986 geltenden, und seit 1988 wieder eingeführten – Mehrheitswahlrecht zum Tragen kommt. Die Regeln des Mehrheitswahlrechts sorgen dafür, dass nur wenige Kandidaten und Kandidatinnen aus dem ersten Wahlgang in die entscheidende zweite Runde kommen. Bei den Präsidentschaftswahlen handelt es sich dabei ausschließlich um die beiden bestplatzierten Bewerber oder Bewerberinnen. Hingegen gilt bei Parlamentswahlen eine andere Regel.

Um in eine Stichwahl einzuziehen erfordert das französische Wahlrecht von Parlamentskandidatinnen im ersten Wahlgang von mindestens 12,5 Prozent der eingetragenen Stimmberechtigten gewählt worden zu sein. Nicht der abgegebenen Stimmen, sondern der Wahlberechtigten. Dies bedeutet auch: Je niedriger die Stimmbeteiligung, je höher die Enthaltung, desto höher liegt auch diese Hürde, gemessen an den Wahlteilnehmern und -teilnehmern. Beträgt die Wahlenthaltung also 50 Prozent, dann steigt die Hürde automatisch auf 25 Prozent der abgegebenen Stimmen an. Doch am 12. Juni dieses Jahres betrug die durchschnittliche Wahlbeteiligung in ganz Frankreich nur 47,5 Prozent und somit nochmals gut ein Prozent unter jener vor fünf Jahren.

Störfaktor für andere Parteien

Seit den 1990er Jahren hatte sich die Praxis herausgebildet, dass bei den Stichwahlen in den insgesamt 577 Parlamentswahlkreisen meist so genannte triangulaires auftraten. Diese lösten die zuvor üblichen Stichwahlen mit zwei Kandidaturen – eine links, eine rechts – ab und wurden durch den Aufstieg des damaligen „Front National“ (FN) unter Jean-Marie Le Pen ausgelöst. Zwischen den dreien entschied dann jeweils die relative Mehrheit.

Der FN reagierte seinerzeit darauf, dass die Konservativen sich nach anfänglichem Zögern in den Jahren 1984 bis 87 dazu entschieden, nicht mit ihm regieren zu wollen, dass er eine bis dahin ungekannte Wahltaktik übernahm. Auch dort, wo die Chancen zu einer Wahl in der zweiten Runde gering schienen, hielt die Partei überall die Kandidaturen aufrecht. Dadurch konnte der „Front National“ zwar nur wenige Abgeordnete in die Nationalversammlung entsenden, dies verhinderte das Wahlrecht, doch der FN bildete einen Störfaktor für die anderen Parteien. Die Parlamentswahlen 1997 hätten etwa die Konservativen gewinnen können, doch diese verloren (aufgrund von über 130 triangulaires) rund 60 Abgeordnete durch die systematische Aufrechterhaltung der FN-Bewerber und mussten daraufhin für fünf Jahre in die Opposition. Die Taktik aller Parteien bei Parlamentswahlen wurde zum „Spiel über Bande“: Man kalkulierte nicht nur die Stärke und Schwäche des jeweiligen Hauptgegners, sondern bezog auch eine jeweils dritte Kraft als Störfaktor in die Rechnung mit ein.

Absolute Mehrheiten erforderlich

Das ist nun vorbei. Verantwortlich dafür ist die hohe Wahlenthaltung. Nur in acht von insgesamt 577 Wahlkreisen zogen drei Kandidaten in die Stichwahl ein, in allen übrigen waren es nur je zwei. Deswegen waren in der Regel absolute und nicht relative Mehrheiten erforderlich, um in den jeweiligen Wahlkreisen zu gewinnen.
 
Seit den 1990er Jahren galt diese Hürde als für die extreme Rechte nur schwer überwindbar, da sich in aller Regel die übrigen Parteien gegen ihre Kandidaturen zusammenschlossen. Nicht so in diesem Jahr. In fast 90 Wahlkreisen nahm der RN die Barriere am Ausgang der zweiten Runde. Und nicht nur dies. In vier von 100 französischen Départements (Verwaltungsbezirken) gewann der RN sämtliche dortigen Wahlkreise, beispielsweise alle vier Wahlkreise im Bezirk „Ostpyrenäen“ rund um Perpignan.

Hochburgen

Die extreme Rechte hat ihre Hochburgen nach wie vor in den industriellen Krisenzonen Ost- und Nordostfrankreichs – dort gewann die frühere RN-Chefin und zwischenzeitliche Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen ihren bereits 2017 „eroberten“ Wahlkreis erneut, mit 61 Prozent der abgegebenen Stimmen – sowie fast alle Mittelmeer-Anrainerbezirke. Im ersteren Falle gewinnt sie durch ihre Verankerung in einer seit den 1990er Jahren zum Teil von der politischen Linken gewonnen Arbeiterwählerschaft, im Süden eher durch eine Mischung aus früheren Algeriensiedlern (Pieds Noirs) und Rentnern im französischen Sonnengürtel, wobei die Wählerschaft des RN im zweitgenannten Raum im Durchschnitt wohlhabender und wirtschaftsliberaler eingestellt ist als im nordostfranzösischen Bereich.

Zemmour-Partei scheitert

Im ersten Wahlgang vom 12. Juni erhielt die extreme Rechte insgesamt 24,14 Prozent der Stimmen, rechnet man alle ihre Kandidaturen zusammen. Auf die Hauptpartei, den RN, entfielen dabei 18,68 Prozent. Die seit dem Spätherbst 2021 aufgebaute Konkurrenzpartei unter dem im April gescheiterten Präsidentschaftskandidaten und früheren Journalisten Eric Zemmour, Reconquête! („Rückeroberung!“) erzielte landesweit 4,25 Prozent. Ihre Kandidaten scheiterten überall.

Als einziger von ihnen unterlag Zemmour selbst nur relativ knapp, mit 23 Prozent im Wahlkreis Saint-Tropez/Cogolin. Aufgrund niedriger Wahlbeteiligung reichte dies nicht, um in die Stichwahl einzuziehen, und er musste ausscheiden – diese gewann dann ein Bewerber des RN, dessen künftiger Abgeordneter Philippe Lottiaux. Das partei-, jedenfalls das wahlpolitische „Schisma“ der extremen Rechten dürfte damit nun überwunden sein: Das Projekt Konkurrenzpartei ist jedenfalls bei Wahlen gescheitert, und der RN behauptet seine Vormachtstellung auf diesem politisch-ideologischen Feld.

Die erstmals seit dem Abschnitt zwischen 1986 und 88 (mit damals 35 unter dem Verhältniswahlrecht gewählten Abgeordneten) erreichte Fraktionsstärke verschafft dem RN neue Rechte, und künftige permanente Medienaufmerksamkeit rund um die zu erwartenden Parlamentsdebatten. Aufgrund seines Fraktionsstatus kann der RN nun Sitzungsunterbrechungen beantragen, das Verfassungsgericht gegen Gesetzestexte anrufen – dazu sind mindestens 60 Abgeordnetenmandate erforderlich –, Ausschusssitze übernehmen, Mitarbeiterstäbe einstellen. Und die Parteieinfinanzierung des in den letzten Jahren chronisch an Unterfinanzierung leidenden RN ist nunmehr gesichert, diese hängt an den Parlamentswahlergebnissen.

Einfluss auf Gesetzgebung?

Unterdessen regten manche Vertreter des Regierungslagers, wie Justizminister Eric Dupont-Moretti und die Parlamentarierin Céline Calvez an, man müsse den RN künftig auch in die Mehrheitsfindung einbeziehen. Aufgrund des allgemeinen Wahlergebnisses wird es künftig keine stabile Mehrheit geben, sondern werden voraussichtlich wechselnde Mehrheiten gefunden werden. Dupont-Moretti forderte den RN in diesem Zusammenhang dazu auf, sich „konstruktiv“ zu zeigen und den Texten sowie den Budgets für den Ausbau der Justiz zuzustimmen.

Gerne dürfte die extreme Rechte übrigens eine Stärkung der Justiz unterstützen, sofern es um Strafjustiz geht – sicherlich nicht um Arbeitsgerichte, erst recht nicht um erleichterte Verwaltungsgerichtsverfahren im Ausländerrecht, welche sie mitsamt den Widerspruchsrechten am liebsten kappen würde.

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