Rezension
Von „Radikalisierungsmaschinen“ bis zur „Massenradikalisierung“
Die Extremismusforscherin Julia Ebner legt in ihrem neuen Buch „Massenradikalisierung“ verschiedene Reportagen vor, worin das Denken und Handeln in subkulturellen Milieus wie den Impfgegnern, „Incels“, Klimawandlungsleugnern oder Transphoben thematisiert wird. Es handelt sich mehr um persönliche Erfahrungsberichte, ging Ebner doch undercover vor, gleichwohl wird berechtigt auf die ansteigende soziale Verbreitung verwiesen.

Vor einigen Jahren schien es sie nur an gesellschaftlichen Rändern zu geben: Impfgegner, Klimawandlungsleugner, QAnon-Verschwörungsideologen. Mittlerweile hätten deren Anhänger und Apologen in der gesellschaftlichen Mitte ihren Ort gefunden. Diese Auffassung vertritt Julia Ebener, die am Institute for Strategic Dialogue in London sowie am Centre for the Study of Social Cohesion in Oxford arbeitet. Die Extremismusforscherin wurde durch die Monographie „Radikalisierungsmaschinen“ bekannt.
Darin schilderte sie die Entwicklung der Internetkommunikation für politische Veränderungsprozesse, die mit einem Anstieg extremistischer Phänomene mit neuen ideologischen Prägungen einherging. Ebner recherchierte dazu unter anderem Namen, sowohl im Internet wie in das Realleben. Ihre daher subjektiv geprägten Erfahrungen nahmen die Lesenden dann mit auf eine gedankliche Reise in eine von merkwürdigen Subkulturen geprägte absonderlich wirkende Welt. Deren Ausmaß scheint nicht nur für die Kommunikation aber stark zugenommen zu haben.
Prognostizierte „Massenradikalisierung“ in der Mitte
Genau diese Auffassung steckt in dem neuen Buch „Massenradikalisierung. Wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt“. Dessen Kernaussage formuliert die Verfasserin in folgenden Worten: „Wir stehen am Beginn eines Jahrzehnts der Massenradikalisierung und der Hyperpolarisierung. Nach nur drei Jahren sind die 2020er Jahre bereits von gesellschaftlichen Gräben durchzogen, die sich entlang der Kampflinien um Antirassismus, Geschlechtergleichheit, Queer-Rechte Maßnahmen gegen den Klimawandel, Impfstoffakzeptanz und Ukrainekrieg rasant immer weiter auftun“.
Um das damit Gemeinte konkret an Phänomenen zu veranschaulichen, ging Ebner ähnlich wie in der vorherigen Monographie vor. Sie erfand für sich diverse Identitäten und Personen, womit sie sowohl kommunikativ im Internet wie in realer Präsenz aktiv wurde. Dieses Agieren ähnelt dem investigativen Journalismus ebenso wie einer nachrichtendienstlichen Vorgehensweise, dann aber als Eine-Frau-Aktivität einer Sozialwissenschaftlerin.
Von den „Incels“ über die Klimaleugner bis zu den Transphoben
Auch hier berichtet Ebener in Form von Reportagen darüber, was in einzelnen Milieus geschieht und welche Wirkungen dies entfaltet. Da geht es um die frauenfeindlichen „Incels“ und die Klimawandlungsleugner, um die rassistischen Aktivsten von „White Lives Matter“ und die Szene der Transphoben, um die unterschiedlichen Impfgegner und die „QAnon“-Verschwörungsgläubigen. Deren jeweiliges Gedankengut habe binnen weniger Jahre bis in die gesellschaftliche Mitte hineingewirkt.
Die Autorin sieht darin folgende Gefahr: „Sobald politisch signifikant große Teile der Bevölkerung anfangen, an Ideen zu glauben, die ihren Ursprung in randständigen Subkulturen haben, ist der Prozess der Massenradikalisierung abgeschlossen“. Ein gesondertes Kapitel widmet sie dabei noch „Russlands Kampf gegen eine freiheitliche Welt“, worin die Bedeutung dieser Entwicklung für die Politik von Putin thematisiert wird. Und schließlich folgen Anregungen zu Gegenstrategien, etwa bezogen auf Berührungspunkte, Bündnisse oder Sprachschutz.
Darstellungen wie Filmdokumentationen in Worten
Die besondere Darstellungsform bedeutet für die Monographie aber auch ein Problem, nicht nur einen Reiz. Gekonnt setzt die Autorin in der Beschreibung auch Spannungseffekte ein, schildert etwa ihre Ängste in besonderen Situationen. Darüber hinaus wirken viele Darstellungen wie Filmdokumentationen in Worten. Gleichzeitig stellt sich aber für eine allgemeine Deutung die Frage, in welchem Maße das Präsentierte akzeptiert wird. Immer wieder streut Ebner Informationen darüber ein, wie hoch etwa nach Umfragen der Verschwörungsglaube verbreitet ist.
Aber in welchem Ausmaß gilt dies für das konkret Gemeinte? Gerade weil sie hier von einer „Massenradikalisierung“ spricht, wären darauf bezogene Verortungen wichtig. Insgesamt ist das Buch für ein breiteres Publikum konzipiert. Es will über bedenkliche Entwicklungen an gesellschaftlichen Rändern informieren, welche durchaus in die gesellschaftliche Mitte einen Weg gefunden haben. Man muss nicht von einer Erosion sprechen, kann aber berechtigt eine derartige Warnung vortragen.
Julia Ebner, Massenradikalisierung. Wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt, Berlin 2023 (Suhrkamp-Verlag), 361 Seiten, 20 Euro