Von Nürnberg nach Den Haag

Vor 70 Jahren begannen die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. In dem Dokumentarfilm „A Man Can Make a Difference“ zieht der einstige Chefankläger Benjamin Ferencz Bilanz –und stellt beklemmende Bezüge zur Gegenwart her.

Montag, 16. November 2015
Nils Michaelis

Vielen dürfte das Bild aus alten Nachrichtenausschnitten bekannt sein: Ein jungenhafter Anwalt mit zarten Gesichtszügen doziert im Nürnberger Gerichtssaal über Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Mit den berühmten Worten „Das war kaltblütiger Massenmord. Und ich kann das beweisen“ beginnt er den Prozess. Auf der Anklagebank sitzen 24 ehemalige SS-Führer. Vor dem US-Militärgericht müssen sie sich von Herbst 1947 bis Frühjahr 1948 für die Blutspur der Einsatzgruppen in der Sowjetunion – Schätzungen gehen von bis zu 1,5 Millionen Opfern aus – verantworten. Alle werden schuldig gesprochen. 14 von ihnen, darunter der Hauptangeklagte Otto Ohlendorf werden zum Tode verurteilt.

Mehr als 60 Jahre später sehen wir jenen jugendlichen Juristen im gleichen Gerichtssaal wieder: Es ist Benjamin Ferencz, mit 27 Jahren seinerzeit der jüngste und heute der letzte noch lebende Chefankläger jener Tage. Seine Rolle im Einsatzgruppen-Prozess war nur der Anfang seines Kampfes dafür, Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen. Ferenczs jahrzehntelangen Bemühungen tragen dazu bei, dass 2002 der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag gegründet wird.

Fortschritt vermisst

Nürnberg und Den Haag: Für Ferencz gehört beides zusammen. Auch davon erzählt der Film. In Nürnberg habe er dazu beitragen wollen, dass sich derlei Grausamkeiten an Zivilisten in Kriegen nicht wiederholen und dass Angriffskriege geächtet werden. Auf beiden Feldern sei die Menschheit nicht entscheidend weitergekommen, stellt der mittlerweile 95-Jährige enttäuscht fest. Regisseurin Ullabritt Horn erzählt aber auch von einem, mag es auch noch so abgegriffen klingen, amerikanischen Traum: Als kleiner Junge flieht Ferencz mit seiner Familie vor dem Antisemitismus und der Armut in Rumänien nach York, wo die Neuankömmlinge unter ärmlichen Bedingungen leben. Mit viel Glück landet der junge Benjamin auf dem College und studiert Jura in Harvard.

Wenn sich Ferencz in gleichsam anschaulichen wie pointierten Passagen erinnert, erleben wir, wie sehr frühe Lebenserfahrungen alles Weitere im Leben prägen: nicht zuletzt den Glauben an sich selbst. Immer wieder erfährt der Einwanderersohn, dass es darauf ankommt, selbst aktiv zu werden und ungewöhnliche Wege zu gehen, um eigene Ideen und Ziele durchzusetzen. So läuft es schließlich auch beim Einsatzgruppenprozess. Sein Motto: Ist der Haupteingang versperrt, gehe ich durchs Fenster. Als US-Soldat erlebt Ferencz, wie das Grauen der Konzentrationslager nach deren Befreiung fortwirkt. Als er Beweismaterial zum Massenmord der Einsatzgruppen an Juden in die Hände bekommt, ist er fest entschlossen, die Täter zu bestrafen. Rückblickend erzählt Ferencz, wie er seinen Vorgesetzten nur mit Mühe davon überzeugen konnte, den Prozess gegen Ohlendorf und Co. mit ihm als leitenden Staatsanwalt einzuleiten – zusätzliches Geld und Personal gab es dafür übrigens nicht.

Überwältigende Erinnerungen

Somit wird, ganz im Sinne des Filmtitels, deutlich: Was ein Einzelner will und vermag, macht tatsächlich den Unterschied. Mitunter kann er sogar Berge versetzen. Horn ging es indes um keine Heldengeschichte, zumindest nicht im klassischen Sinne. Immer wieder erwähnt der Protagonist seine Traumata, Schuldgefühle und Selbstzweifel. Mehrfach wird er vor laufender Kamera von seinen Erinnerungen überwältigt.

Doch sein Humor bleibt stets griffbereit: Mit reichlich Selbstironie kommt Ferenzc, der nach Kriegsende das Entschädigungsabkommen zwischen Israel und der Bundesrepublik mit auf den Weg gebracht hat, auf eigene Unzulänglichkeiten zu sprechen. Und damit auch auf die Begrenztheit seines Engagements gegen Angriffskriege in späteren Jahren, das ihn auch zum Zeitpunkt der Dreharbeiten rund um die Welt führte. Mögen die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs und der Einsatzgruppen-Prozess noch so viel Aufsehen erregt haben. Dass die USA mit ähnlichen Argumenten ihre Invasionen und gezielten Tötungen von Terroristen wie Osama Bin Laden begründen, wie Ohlendorf den Vernichtungskrieg im Osten, setzt ihm sichtlich zu. Zumal seine „Kollegin“ am Haager Gerichtshof, Fatou Bom Bensouda, immer wieder darlegt, wie sich auch heute immer wieder in bewaffneten Konflikten die Barbarei Bahn bricht, und wie schwierig es ist, die Exzesse zu ahnden.

Und dennoch: Von Resignation und Zynismus scheint Ferencz frei zu sein: Seine ganze Hoffnung liegt in der Jugend. In bestechender Lockerheit und Frische erleben wir ihn bei diversen Begegnungen. Mögen die ausgiebigen Monologsequenzen und damit die Dramaturgie mitunter Geduld erfordern: Nicht zuletzt der so unbefangenen und junggebliebenen Hauptfigur ist es zu verdanken, dass diese Reise durch die Geschichte des Rechts äußerst berührend und unterhaltsam ausfällt.

Info: A Man Can Make a Difference (Deutschland 2015), ein Film von Ullabritt Horn, mit Benjamim Ferencz, Fatou Bom Bensouda u.a., 90 Minuten. Jetzt im Kino.

Der Text erscheint mit freundlicher Genehmigung von vorwärts.de
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