Henstedt-Ulzburg-Prozess
Ungereimtheiten und Erinnerungslücken
Im Henstedt-Ulzburg-Prozess um die Autoattacke auf Teilnehmer*innen einer Kundgebung gegen die AfD hat sich ein damaliger Begleiter des Angeklagten von der Tat zu distanzieren versucht. Je länger er befragt wird, desto klarer wird jedoch: Ganz so harmlos, wie er tut, ist der Zeuge nicht – und sein angeblich schlechtes Gedächtnis mitunter nur vorgeschoben.
So groß sind die Erinnerungslücken, auf die sich der Zeuge beruft, dass Richterin Maja Brommann schließlich besorgt nachfragt: ob der junge Mann eine Krankheit habe? Ein Drogenproblem? Irgendetwas, was diese immense Vergesslichkeit erklären könnte? „Nicht, dass ich wüsste“, antwortet der 22-Jährige. Es ist eine Antwort, die er an diesem Donnerstag weder zum ersten noch zum letzten Mal zum Besten geben wird.
Der leicht untersetzte Mann mit viel braunem Bart und Haupthaar war dabei, als sein Freund, das damalige AfD-Mitglied Melvin S., mit einem tonnenschweren Pick-up gezielt Teilnehmer*innen einer Kundgebung gegen die Rechtsaußenpartei angefahren und schwer verletzt haben soll. Vor fast genau drei Jahren war das, in Henstedt-Ulzburg, einer schleswig-holsteinischen Gemeinde vor den Toren Hamburgs. Seit drei Monaten muss sich Melvin S. deshalb vor der Jugendstrafkammer des Kieler Landgerichts verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft dem heute ebenfalls 22-Jährigen versuchten Totschlag vor.
„Beschissene Aktion“
Äußerst maulfaul präsentiert sich der Zeuge, der sich nun an jenen Tag im Oktober 2020 erinnern soll, und wohl auch etwas denkfaul. Einsilbig fallen seine vernuschelten Antworten aus, er ist erkennbar bemüht, möglichst große Distanz zwischen sich und die, wie er sagt, „beschissene Aktion“ zu bringen. Nur dass Melvin S. den VW Amarok seiner Mutter plötzlich auf den Gehweg gelenkt und auch ihn dabei fast erwischt habe, will er noch wissen. Danach habe er einen Blackout und könne sich erst wieder erinnern, wie ein Demonstrant auf dem Grünstreifen gelegen habe. Ob dieser Mann angefahren wurde? „Weiß ich nicht.“
Auch Melvin S. hatte eine ähnlich große Erinnerungslücke geltend gemacht, auch er will sich nicht mehr erinnern können, dass er, so steht es in der Anklage und so haben es die Betroffenen berichtet, mit hoher Geschwindigkeit drei Menschen angefahren und dafür sogar eigens noch einen Schlenker über den angrenzenden Grünstreifen gemacht haben soll. Ein vierter Mann konnte sich gerade noch durch einen Sprung zur Seite retten.
Sturmhauben doch nur Corona-Masken?
Was der Angeklagte dagegen angeblich noch genau wusste: wie einer seiner drei Begleiter von vermummten Gegendemonstrant:innen brutal angegriffen und geschlagen worden sei. So heftig, dass er in einer Art Kurzschlussreaktion mit dem Pick-up auf sie zugefahren sei. Um seinen Kumpel zu retten. Als der vor einer Woche als Zeuge im Kieler Gericht auftrat, schrumpfte der vermeintlich lebensbedrohliche Angriff indes auf eine einzige Ohrfeige.
Und auch der am Donnerstag befragte Mann schildert die Ereignisse weit weniger dramatisch, als er es noch kurz nach der Tat bei der Polizei getan hatte. Aus zwei Schlägen, von denen er damals erzählt hatte, wird einer, ohne größere Folgen: „Ich hab kein Hämatom gesehen, gar nichts.“ An einen Tritt, den er selbst abbekommen haben wollte, kann er sich nicht mehr erinnern. Und die Sturmhauben, die sich zumindest einige der Angreifer übergezogen haben sollten, könnten, nun ja, vielleicht auch Corona-Masken gewesen sein.
Ich war’s doch
Nur in einem Punkt ist er sich sicher: dass er zufällig gesehen habe, wie sich ein Mann vor dem Angriff „gepolsterte Handschuhe“ angezogen habe. „Ich achte sehr gerne auf Kleinigkeiten“, erklärt er, recht erstaunlich angesichts der ungezählten kleinen und großen Fragen, bei denen er ansonsten die Antwort schuldig bleibt.
Rechtsextreme Aufkleber, die Melvin S. & Co. am Rande der Kundgebung verklebt haben sollen? Provozierende Fotos mit einer Flasche „Reichsbrause“, einer von dem bekannten Thüringer Neonazi Tommy Frenck vertriebenen Limonade in NS-Optik? Erst erinnert sich der Zeuge auch hier an nichts. Dann macht er allein den Angeklagten dafür verantwortlich. Und dann muss er, konfrontiert mit verräterischen Whatsapp-Chats, einräumen: Ich war’s doch selbst.
Was wiederum eine Erklärung sein könnte für etwas, was der Zeuge selbst nicht so recht erklären kann oder will: warum er, der nie etwas Böses getan haben will und sich nach seinen Worten auch für Politik rein gar nicht interessiert, sofort zu dem auf dem Grünstreifen liegenden Mann ging, um sich zu entschuldigen. Genauso wie sein Begleiter, der gerade noch von den Linken geschlagen worden sein sollte. „Gute Frage“, sagt der 22-Jährige. Und dann, nach längerem Nachdenken: „Wir waren als geschlossene Gruppe da.“
Für den Prozess sind noch Verhandlungstage bis Mitte Dezember angesetzt.