Über 300 Rechtsextreme in Sicherheitsbehörden
Vom Anfang Juli 2018 bis Ende Juni 2021 sind 327 Bedienstete, die in deutschen Sicherheitsbehörden tätig sind oder waren, durch Bezüge zur rechtsextremen Szene und zu Reichsbürgern aufgefallen.

Das geht aus dem zweiten Lagebericht „Rechtsextremisten, ,Reichsbürger’ und ,Selbstverwalter’ in Sicherheitsbehörden“ in Bund und Ländern hervor. Den Bericht stellten am Freitagmorgen Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang in Berlin vor. Beide betonten, dass Rechtsextremisten in Behörden ein Gefahrenpotential darstellten. Sie hätten zum Teil Zugang zu Waffen und Munition oder könnten sensible Daten abfragen. Derlei könne bei einer Vernetzung mit Verfassungsfeinden außerhalb der Sicherheitsbehörden an diese weitergeleitet werden.
Laut dem Bericht sind unter den Bediensteten der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern in den drei Jahren 327 Mitarbeiter aufgefallen, die nachgewiesene Bezüge zum Rechtsextremismus oder zur Szene der Reichsbürger und „Selbstverwalter“ haben. Beobachtet wurde bei den auffällig gewordenen Mitarbeitern beispielsweise die Teilnahme an extremistischen Veranstaltungen, Kontakte zu extremistischen Parteien oder das Rufen und posten rechtsextremer oder nationalsozialistischer Parolen oder Gruß-Formeln in Chats und den Sozialen Netzwerken.
Fälle von AfD und „Querdenker“ fehlen meist noch
Zwei Phänomenbereiche wurden bisher indes kaum aufgehellt. Zwar erwähnte Haldenwang auf der Pressekonferenz kurz einen von ihm zunächst nicht namentlich genannten Verdachtsfall im Parteienspektrum. Gleichwohl betonte er später auf Nachfrage von Journalisten, dass eine Beobachtung der AfD erst nach dem Berichtszeitraum erfolgte. Ähnliches, ergänzte Haldenwang, treffe auf Impf- und Corona-Maßnahmen-Gegner zu. Die heterogene Szene wird unter dem sperrigen Label verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates eingeordnet, aber auch dieses Phänomen wurde erst ab Mitte 2021 besonders auffällig. Haldenwang ging davon aus, Einzelfälle aus diesen Spektren, die zuvor schon aufgefallen waren, seien im Lagebild enthalten.
Zusammengetragen hat die Informationen für das Lagebild das Bundesamt für Verfassungsschutz. Den Angaben zufolge waren im Berichtzeitraum die Aktivitäten von insgesamt 860 Bediensteten betrachtet worden, bei denen ein Verdacht vorlag. Davon betrafen 176 Fälle Bundes- und 684 Fälle Landessicherheitsbehörden. Letztlich bestätigten sich insgesamt 327 Fälle, wobei 138 davon den Bund und 189 die Länder betrafen. Als Konsequenz aus allen Fällen wurden laut Verfassungsschutz im Berichtszeitraum 500 arbeits- und disziplinarrechtliche Maßnahmen eingeleitet. Betroffen waren alle Sicherheitsbehörden, neben Bundeswehr und den Polizeistellen mit den meisten Fällen waren in Einzelfällen Rechtsextremisten auch Bedienstete der Verfassungsschutzbehörden.
Reichsbürger und Selbstverwalter als Staatsdiener
Insgesamt 30 Extremismusfälle von Bediensteten fielen in den Sicherheitsbehörden des Bundes auf, die der Szene der Reichsbürger und „Selbstverwalter“ zugerechnet werden. Drei dieser Fälle haben einen Bezug zum Rechtsextremismus. Bei den Sicherheitsbehörden der Länder fielen insgesamt 18 Personen auf, die der Szene der Reichsbürger und „Selbstverwalter“ zugeordnet werden. Vier Fälle davon haben einen Bezug zum Rechtsextremismus.
Neu am Lagebericht und den entsprechenden Ermittlungen ist laut Haldenwang, dass durch die „personenscharfe“ Übermittlung eine genauere Analyse von „Kennlinien“ der betroffenen Bediensteten in die rechtsextremistische, Reichsbürger- und „Selbstverwalter“-Szene möglich sei. 201 Bedienstete, bei denen Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen, haben demnach laut Lagebericht „Kennverhältnisse“ zu insgesamt 765 extremistischen Akteuren, womit Personen, Organisationen, aber auch „eklige“ (Haldenwang) Chatgruppen gemeint sind.
Kontakte bis ins militante Spektrum
Solche „Kennverhältnisse“ bezogen sich laut Lagebericht auf Parteien wie die NPD, der Dritte Weg und Die Rechte sowie zur Jugendorganisation der AfD, der „Jungen Alternative“ (JA). Die JA war in Teilen schon vor der Mutterpartei als Verdachtsfall eingestuft worden. Bezüge gab es ferner zur „Identitären Bewegung“ (IB). Bei 157 Bediensteten seien 274 Kontakte zu „Netzwerkpersonen“ erfasst worden, etwa zum NPD-Kader Thorsten Heise, zum neurechten Netzwerker Götz Kubitschek, zu Jürgen Elsässer, Chefredakteur des rechtsextremistischen „Compact“-Magazins, zum „Volkslehrer“ und Holocaust-Relativierer Nikolai Nerling sowie zu Martin Sellner, einem der maßgeblichen Köpfe der IB im deutschsprachigen Raum.
Laut Lagebericht wurden von 67 Bediensteten der Sicherheitsbehörden 383 Teilnahmen an 341 unterschiedlichen extremistischen Veranstaltungen festgestellt. Dazu zählten etwa Besuche von Aktivitäten und Stammtischen der IB sowie Treffen der „Jungen Alternative“ (JA) und des unterdessen formal aufgelösten Zusammenschlusses „Der Flügel“ in der AfD. Ferner fielen Bedienstete als Besucher der neonazistische Kampfsportveranstaltung „Kampf der Nibelungen“ oder Neonazi-Musikfestivals wie dem „Rock gegen Überfremdung“ auf.
Mehr Prävention und Aufklärung
Ebenso nahmen Behördenmitarbeiter an braunen Aufmärschen wie zum Beispiel dem „Marsch der Ehre“ in Ungarn oder dem „Rudolf Heß-Gedenkmarsch“ teil. Auch an Schießtrainings auf einem Schießplatz eines Rechtsextremisten in Mecklenburg-Vorpommern, der im Ermittlungskomplex „Nordkreuz“ auffiel, nahmen Bedienstete teil. Auch wenn das Lagebild Fälle von Beamten und Mitarbeitern auflistet, die seit Mitte 2018 in ihrem Dienst auffielen, können die genannten Veranstaltungsbesuche und Kontakte in den überwiegenden Fällen bis 2015, manchmal auch noch früher zurückreichen.
Bundesinnenministerin Faeser erwähnte, dass Disziplinarverfahren bei konkreten Fällen von mutmaßlich verfassungsfeindlichen und extremistischen Beamten und Behördenmitarbeitern noch zu lange und teils mehrere Jahre dauern. „Einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesdisziplinargesetzes werde ich noch in diesem Jahr vorlegen. Wir werden Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem öffentlichen Dienst entfernen“, betonte Faeser. Zudem werde man die Prävention durch Schulungen und Ansprechstellen in den Behörden weiter stärken und schon bei der Personalauswahl achtsam sein.