Über Habitus, Ideologie und Praxis: Im Gespräch mit Henning Eichberg (Teil 2)

In den 1970er Jahren galt Henning Eichberg als Vordenker der "Neuen Rechten". Wir sprachen mit ihm über seinen Wechsel von rechts nach links und vor allem darüber, warum dies nach seiner Ansicht mehr mit körperlicher Inszenierung, einem Habitus als einer politischen Theorie zu tun hat. Den ersten Teil des Interviews finden Sie hier.

Samstag, 05. Juni 2010
Henning Eichberg
Über Habitus, Ideologie und Praxis: Im Gespräch mit Henning Eichberg (Teil 2)
ENDSTATION RECHTS.: Nun wird’s spannend: Mit dem Aufkommen des Industriekapitalismus, mit der „Ersten Moderne“ (Ulrich Beck) werden die westlichen Gesellschaften unweigerlich Massengesellschaften. Niemand kommt spätestens seit dem 19. Jahrhundert politisch an der Frage der Massenintegration vorbei. So gesehen hat Hitlers Politik per acclamationem durchaus etwas Demokratisches, geradezu Egalitaristisches, also „Volkhaftes“. Hierzu muss man sich ja nur die zahlreichen durch die Nazis eingeführten sozialen „Modernisierungen“ vergegenwärtigen, die bis heute Bestand haben. Das entscheidende Problem mit Hitler war doch gerade das, was Sie für eher beiläufig zu halten scheinen: die Abgrenzung des Volkes – „wer immer das sei“. Ist mit der Moderne nicht genau die Entscheidung über „wir“ und die „anderen“, über Inklusion und Exklusion der wirkliche Unterschied zwischen „links“ und „rechts“? Müsste nach Ihrer Definition am Ende nicht sogar der Nationalsozialismus der politischen „Linken“ zugeschlagen werden? Eichberg: Eben gerade nicht. Die Zuordnung des Nazismus zur Linken könnte allenfalls ideologiegeschichtlich begründet werden. Die Habitusgeschichte sagt uns aber etwas ganz anderes. Nehmen wir die Körperrepräsentationen und idealtypischen Körperbilder. Der rechte Körper ist repräsentiert durch den muskulösen, maskulinen Körper – den zeigten Josef Thoraks und Arno Brekers Nazi-Skulpturen, und die Statuen auf dem Foro Mussolini in Rom. Der „Körper des Staats“ ist zudem repräsentiert durch den Führer als einen drahtigen, energischen „politischen Athleten“, der sich im Idealfalle gern als Sportführer zeigt. Mussolini posierte als Fechter, Rennfahrer und in anderen sportiven Rollen. Der Führer der britischen Faschisten, Oswald Mosley, inszenierte sich ebenfalls mit athletischer Geste. Und das geht in unseren Tagen weiter, sichtbar in den Aufmärschen der NPD. Und der Geschäftsmann Silvio Berlusconi qualifizierte sich mit der Präsidentschaft des Fussballklubs AC Mailand für die Führung der italienischen Rechten. – Das Körperbild der Linken unterscheidet sich von diesem narzisstischen Stil. Der „linke Körper“ ist eher asketisch und ideologisch diszipliniert – oder aber ganz vernachlässigt. In der Welt der Linken herrscht das Wort über die Körperinszenierung und der kritische Diskurs über die Ästhetik des Muskels. Die fanatische Sportbegeisterung der Fans tendiert eher zur Rechten, die Sportkritik eher zur Linken. Etwas anderes: der militärische Habitus. Die Rechte sucht die Nähe zur Uniform und anderen Formen militärischer Ordnung. Sie hat eine Vorliebe für einen bestimmten militärischen Bewegungsstil, der als „zackig“, „straff“ oder „schneidig“ bezeichnet wird. So inszenierte ich mich auch persönlich in den frühen sechziger Jahren. Zwar sind auch auf der Linken verschiedentlich paramilitärische Disziplinierungsformen aufgetaucht, aber im eigenen Lager begegnete man ihnen stets mit Misstrauen. Eine Theatralisierung des Militärischen konnte sich daraus kaum entwickeln – weshalb ich übrigens den linken Charakter des Stalinismus grundlegend infrage stelle. Die linke Theatralisierung ist eher verbunden mit dem Happening und dem Kabarett, mit der ironischen Inszenierung und dem spontanen, improvisierten Ereignis. Der Mai 1968 in Paris hatte Züge eines solchen Polittheaters. Und noch etwas Augenfälliges: das Verhältnis der Geschlechter. Der Männerbund ist typisch rechts, der Feminismus tendiert nach links. Zwar gibt es Ausnahmen, es gibt Altmännerriegen in der Führung linker Parteien und einzelne frauenbewegte Faschistinnen – und dennoch ist da keine Symmetrie. All das macht deutlich, dass der NS-Faschismus habituell eher einen Höhepunkt der Rechten darstellte. Also narzisstischer Körperkult, militaristische Inszenierung, Männerbund. Eben darum ist es so wichtig, sich von der Oberfläche ideologiepolitischer Positionierungen zu entfernen. ENDSTATION RECHTS.: Stimmt, eigentlich hätte man sich das auch denken können. Habe ich das richtig verstanden? Stalin, Mao und Ho Chi Minh, die Systeme und Ideologien repräsentieren, in denen von „oben“ geherrscht wird, in denen Militär, Uniformen, Ordnung und straffe Formen vorherrschen, sind für Sie gar nicht „links“, sondern „rechts“? Stalin und Hitler haben auf einer fundamentalen Ebene also mehr miteinander gemein als Marx und Stalin? Eichberg: In der Tat, so sehe ich das. ENDSTATION RECHTS.: Damit wirbeln Sie natürlich die klassische Links-Rechts-Unterscheidung gehörig durcheinander. Könnte nicht auch genau dies der Punkt sein, warum Sie zahlreichen Zeitgenossen in Deutschland noch immer als suspekte Person gelten, obwohl Sie bereits viele Jahre der dänischen Linkspartei angehören? Ich bin zum Beispiel nicht der einzige linke Landtagsabgeordnete aus Deutschland, der Sie in letzter Zeit besucht hat und Herr Scholz nicht der einzige Journalist, der über Rechtsextremismus schreibt. Aber eine entspannte öffentliche Debatte mit Henning Eichberg wäre in Deutschland wohl kaum denkbar, weil Sie vielen noch immer als „Rechter“ gelten. Vor ein paar Jahren ist ja auch eine umfangreiche Studie erschienen, in der Sie als Antisemit denunziert werden. Könnte diese Problemstellung nicht genau daran liegen, dass Ihre Vorstellungen von „links“ und „rechts“ quer zu den gängigen, vor allem ideologisch geprägten Modellen liegen? Oder sehen Sie dafür ganz andere Gründe? Eichberg: Oha, diese Frage habe ich mir so herum noch gar nicht gestellt. Vielen Dank für diesen Anstoß. Darüber muss ich erst mal nachdenken. Bisher hatte ich mir die eigentümliche Blockierung und die Dämonisierung meiner Person eher von dem besonderen deutschen Trauma her gedeutet. Denn hier in Dänemark, wo meine Biographie bekannt ist, weckt sie eher Interesse als Abwehr – übrigens auch in anderen Ländern. Es gibt da also wohl eine besondere deutsche Verfeindung, und sie geht bis hin zur Paranoia, zum allgemeinen Verschwörungsverdacht. Sie wurzelt – so deute ich das – in einer tiefen Unsicherheit über die eigene Identität. Die Deutsch-Völkischen suchten sich dazu „den Juden“ als Feind – weil sie ihrer selbst unsicher waren. Ich selbst versuchte, wie gesagt, in den sechziger Jahren aus der deutschen Misere in das große Europa zu flüchten, mit seinem faschistischen Glanz. Clemens Heni, auf dessen Eichberg-Buch Sie eben anspielen, ist auch so ein identitätsflüchtiger Deutscher. Er dockte nun beim großen Bruder Bush-USA an, beim amerikanischen Rechtsradikalismus, dessen Kriegspolitik er nun gegen Eichbergs Verschwörung – gegen PDS, Grüne, SPD, ja, und gegen Obama – verteidigen musste. Das finde ich rührend in seiner identitären Verzweiflung, aber inhaltlich fatal. Dazu kam für meine Deutung noch etwas ganz anderes. Der breite Strom persönlich-politischer Veränderung geht von links nach rechts. Jung macht man den linken Aufruhr, und alt landet man dann mehr oder weniger konservativ, im Extremfall bei der äußersten Rechten, so wie Horst Mahler, Reinhold Oberlercher, Günter Maschke und Hans-Dietrich Sander. Nun gibt es eine auffällige Asymmetrie. Den umgekehrten Weg, von der äußeren Rechten zur Linken, sind nämlich ganz wenige gegangen, Hélder Camara, Francois Mitterand, Johannes Agnoli und nur wenige mehr. Und noch seltener hat man selbst diese biographische Veränderung offengelegt. Das habe ich getan. Das gibt Anlass zu Verdacht. Aber nun schlagen Sie die Brücke vom habituellen Verständnis der Rechts-Links-Achse zur Dämonisierung von Eichberg. Das ist wirklich bedenkenswert, und dadurch rückt einiges plötzlich in einen Zusammenhang. Wenn links zu denken – als Methode und habituell – bedeutet, nachhaltig kritisch zu denken, so kann das in der Tat bedrohlich wirken. Das ist „zersetzend“. Links stellt Fragen, auf die es eine Antwort nicht gibt. Die Linke stellt den Kapitalismus infrage, obwohl es das sozialistische System doch nicht gibt und vielleicht nie geben wird; aber der linke Traum von der Solidarität zwischen Menschen bleibt, und er bleibt widerständig. Er bleibt „zersetzend“. Wenn wir – und ich war ja nicht der einzige – damals in den siebziger Jahren von links her entsprechend die nationale Frage aufgeworfen haben, die doch offiziell geschlossen war, dann wirkte das ebenfalls bedrohlich. Es war doch zwischen den Staaten alles geregelt – „Wer die nationale Frage von links her aufwirft, meint bestimmt etwas Böses“, reagierte die deutsche Paranoia – „Was meint Eichberg wirklich?“ und „Auf welches System will er hinaus?“ Kein System, Ihr guten Leute, Ihr habt die linke Weise, Fragen zu stellen, nicht verstanden. Die Infragestellung ist nötig. Das zeigte sich 1989, als die Mauer fiel, als die deutsche Frage plötzlich wieder offen war und auf der Tagesordnung stand – und von der bürgerlichen Rechten durch den Anschluss der DDR an die BRD rabiat ausgenutzt wurde. Politische und gesellschaftliche Veränderung bedeutet, dass plötzlich alles ganz anders ist als gedacht. Darum ist die habituelle Linke notwendig. Aber für den rechten Habitus des Machens, der Ordnung und des Systems ist die Linke „gefährlich“. ENDSTATION RECHTS.: Nun trennen Sie ja sehr scharf zwischen dem habituellen und dem ideologischen Zugriff. Aber gibt es da nicht gehörige Überschneidungen? Ist der Habitus, auch in seiner körperlichen Inszenierung, nicht letztlich die durch Gewöhnung und sich wiederholende Praxis inkorporierte Ideologie? Oder umgekehrt gefragt: Zu welcher habituellen Inszenierung wären Stalin und Hitler eigentlich in der Lage, wenn sie nicht ein ideologisches System hätten, das dem Habitus zeitlich und systematisch vorausginge? Ist also auf einer grundsätzlichen Eben nicht die Ideologie doch wieder wichtiger als der Habitus, weil es ohne eine Ideologie einen Habitus einfach nicht geben kann? Eichberg: Die begrifflich scharfe Trennung halte ich für nützlich, ebenso wie diejenige zwischen Basis und Überbau. Danach, in einem nächsten Schritt, darf man gern über Überschneidungen sprechen, über Unsauberkeiten begrifflicher Unterscheidung, und auch nach dem „Dritten“ fragen. Aber zunächst einmal: Die ideologische Sortierung von rechts und links ist seit etwa einhundert Jahren unklar geworden, aber die habituelle Trennung gibt Sinn. Und warum diese Trennung? Damit es einem eben nicht unterläuft, dass man den Überbau als der Basis vorgängig annimmt. Die rechte (oder linke) Ideologie ist eben nicht die Basis, die sich einen rechten (oder linken) Habitus sucht. Sie geht nicht voraus, sondern umgekehrt. Die habituelle Basis schafft sich Überbauten ideologischer Art. Das wäre jedenfalls die materialistische These. Wir müssen sie keineswegs „glauben“, aber sie bildet einen nützlichen analytischen Ausgangspunkt. Wenn wir nicht auf den methodischen Idealismus zurückfallen wollen, wonach die Ideen den Gang der Dinge bestimmen. ENDSTATION RECHTS.: Vielleicht waren umgekehrt manche Idealisten gar nicht so dumm, wie manche Materialisten glauben. Aber das müssen wir jetzt gar nicht ausdiskutieren. Noch eine letzte Frage: In Deutschland tobt seit Monaten eine Debatte über den „Extremismusbegriff“. Seine Anhänger machen geltend, dass es linke wie rechte Extremisten gibt. Dieser Begriff wird dabei nicht, wie Sie dies zu Beginn unseres Gespräches getan haben, auf die Gewalt, sondern auf die Demokratiefrage bezogen. Extremisten sind also Menschen, die letztlich Grundwerte der Demokratie in Frage stellen und dazu gehören auch die Menschenrechte. Ähnlich wie bei Adornos Studien zum „autoritären Charakter“ könnte man in diesem Zusammenhang von demokratischen und extremistischen Persönlichkeiten sprechen. Vor diesem Hintergrund wäre es gar nicht so verwunderlich, dass es Erscheinungen wie Horst Mahler gibt, die ideologisch von „links“ nach „rechts“ wandern. Nach Lesart der Extremismustheorie würde sich Mahler viel weniger verändert haben, als mancher glaubt, weil er bei allem Wandel auf der ideologischen Ebene seinem extremistischen Habitus wohl doch eher sehr treu geblieben ist. Wie würden Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieses Ansatzes im Verhältnis zu Ihrem eigenen Modell eines Habitus der körperlichen Inszenierung beurteilen? Eichberg: Zunächst mal: Idealisten – in der philosophischen Bedeutung des Wortes – sind überhaupt nicht dumm. Der Idealismus denkt nur anders als der Materialismus. Aber das können wir gern liegenlassen und uns dem Extremismusbegriff zuwenden. Extremismus verstehe ich, wie gesagt, ebenfalls von der politischen Praxis her – da verläuft die Scheidelinie bei der Gewalt. Oder, philosophisch gesagt, extremistisch ist die Vision, man könne „das andere“ ausrotten, indem man Menschen beseitigt oder ausgliedert. Den ideologiebezogenen Extremismusbegriff hingegen, der den „Extremisten“ an seinen Ideen erkennen zu könne glaubt, und dies in Gegenüberstellung zur Demokratie, halte ich für eine unglückliche Konstruktion. Er versucht, Menschen nach ihrem Denken zu sortieren – das ist das eine Problem – und dies mit Blick auf eine Demokratie, von der man behauptet, man habe ein Patent darauf – das ist das andere Problem. Schauen wir doch mal ganz konkret hin: Es gibt erklärte Antidemokraten auf der konservativen Rechten. Unter den englischen Konservativen gibt es viele, die halten sich an Thron und Aristokratie, Kirche und Armee, an „die Institutionen“ und ihre traditionelle Macht. Sie haben ausdrücklich nichts mit der Demokratie im Sinne. Auf der deutschen Rechten ist das selten, aber es gab den monarchistischen Außenseiter Erik von Kuehnelt-Leddin. Und da sind, wirkungsvoller, die Staatsrechtler in der Tradition von Carl Schmitt mit seinem Dezisionismus, und Arnold Gehlen mit dem Vorrang der Institutionen. Sind die deshalb Extremisten? Doch wohl nicht. Sie vertreten merkwürdige, zum Teil antiquierte, zum Teil gefährliche Ideen, die im CDU-Staat bedenkliche Folgen haben konnten. Aber extremistisch? Dann wäre letztlich auch die ganze katholische Kirche eine extremistische Vereinigung und reif für den Verfassungsschutz, denn Gott und Demokratie, das geht nicht zusammen. Oder nehmen wir die rechten Liberalen. Die setzten ganz auf die Macht des Marktes und die Machthaber in den Betrieben. Die Reichen sollen reicher werden, und der Staat als Beschützer der Armen soll auf den Minimalstaat zurückgestutzt werden, auf Militär und Polizei. Null Demokratie. Ideologisch tankt man sich bei Friedrich Hayek auf oder gar bei Ayn Rand. Sind das darum Extremisten? Gerade die etablierte Extremismusforschung würde solche Liberalen wohl kaum als extremistisch bezeichnen und in den Verfassungsschutzbericht einfügen. Der ideologiebezogene Extremismusbegriff kommt doch selbst aus der liberalkonservativen Ecke, und die diesbezügliche Extremismusforschung ist entsprechend CDU-lastig. Ein letztes Beispiel, nun von links, wo die erklärten Antidemokraten seltener sind. (Ich lasse den Bolschewismus mit seiner demokratischen Rhetorik und antidemokratischen Praxis mal beiseite.) Aber es gab vereinzelt linke Nicht-Demokraten. Etwa Kurt Hiller mit seinem erklärten Aristokratismus; er war den Nazis als Sozialist, Pazifist, Jude und Schwuler verhasst – eine faszinierende Gestalt. Und Leonard Nelson mit seiner neu-platonischen Philosophie und dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund, der im Widerstand nach 1933 und dann in der SPD nach 1945 einflussreich war. Das waren keine Demokraten, zu Teilen gar Antidemokraten, auch wohl Radikale – aber Extremisten? Doch wohl nicht. Für den Demokraten sind alle diese Ideologien höchst bedenklich, und man sollte ihnen klar entgegentreten. Aber der Extremismusbegriff ist hier untauglich. Und ob Horst Mahler eine „extremistische Persönlichkeit“ sei, lenkt eher ab. Wichtig ist, ob und inwiefern die NPD eine Gewaltpartei ist. Da geht es um materielle Praxis. Links und demokratisch bedeutet nicht, Menschen zu sortieren, sondern die Verhältnisse zu kritisieren. Vor allem die herrschenden Verhältnisse. ENDSTATION RECHTS.: Sehr geehrter Herr Eichberg, vielen Dank für das Gespräch. Zum ersten Teil des Interviews.
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