Tod eines Siedlerkindes

Ein völkisches Siedler-Paar aus Sachsen-Anhalt muss sich wegen Körperverletzung mit Todesfolge vor dem Gericht in Hannover verantworten. Aus ideologischen Gründen sollen sie ihrer Tochter geschadet haben.

Mittwoch, 11. Februar 2015
Andrea Röpke

Die kleine Sighild wurde nur vier Jahre alt. Weihnachten 2009 ist sie an multiplem Organversagen in Folge von Überzuckerung gestorben. Ihre Eltern Baldur und Antje B. mussten sich seit Mittwoch vor dem Landgericht Hannover verantworten. Die Staatsanwaltschaft macht den 32-Jährigen und seine vier Jahre jüngere Ehefrau für den Tod des an Diabetes erkrankten Kindes verantwortlich. Weder seien sie regelmäßig mit Sighild zu Kontrollen gefahren, noch hätten sie rechtzeitig den Notarzt informiert. Bereits nach zwei Verhandlungstagen erfolgte die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung, die Strafe von acht Monaten wurde auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt.

Beide Eltern bewegen sich seit ihrer Geburt in der rechtsextremen, vor allem völkisch geprägten Szene. Obwohl der Staatsanwalt gestern auf Medienanfrage betonte, dass die ideologische Motivation „keine Rolle“ spiele, steht im Prozess der Vorwurf im Raum, die Eltern hätten als Anhänger der „Neuen Germanischen Medizin“ von Ryke Geerd Hamer die Schulmedizin abgelehnt  und  aus diesem Grund das Insulin für ihr schwer erkranktes Kind nach und nach reduziert. Mehrere Zeugen mit rechtem Hintergrund vertraten im Prozess vor dem Schwurgericht Hannover diese Vermutung. Doch finanzielle und familiäre Streitigkeiten, die bis hin zu Morddrohungen und körperlichen Auseinandersetzungen führten, erschweren die Wahrheitsfindung.

Gefährliche „Neue Germanische Medizin“

Laut Anklage sollen die Eltern bei der Behandlung der Diabetes bewusst und gewollt nach Methoden des früheren Arztes Ryke Geerd Hamer vorgegangen sein. Dessen „Neue Germanische Medizin“ gilt als gefährlich. Seiner Lehre zufolge dürfen Medikamente auch bei schweren Erkrankungen nur in Ausnahmefällen verabreicht werden. Dem Mediziner wurde deshalb bereits 1986 die Approbation entzogen. Weil er aber weiter praktizierte, wurde er mehrfach zu Haftstrafen verurteilt. Darüber hinaus musste er sich vor Gericht verantworten, weil er immer wieder Patienten in akute Lebensgefahr gebracht haben soll.

Kurz nach dem Tod von Sighild erschien Anfang 2010 in einer rechtsextremen Zeitschrift eine Art „Homestory“ unter dem Titel: „Ein Kind stirbt“. Bunte Fotos von Theoderich, genannt Odi, Heinrich, Sighild und dem Baby Ingrun sind zu sehen. Die Jungen tragen Knickerbocker, das Mädchen Kleidchen mit Rüschen und geflochtene Affenschaukeln. Das Familienleben wird als heile Kinderwelt gepriesen. Die Krankheit scheint keine Rolle gespielt zu haben. So auch im Prozess: Die Aussagen der jungen Eltern und der Zeugen erwecken den Eindruck, als wurde der Diabetes-Diagnose keine besondere Aufmerksamkeit gewährt. Erst als das Kind schon Tage litt, Blut gespuckt hatte und sein Atem stillstand, alarmierten die Eltern offenbar den Notarzt.

Das kleine Mädchen sei immer „genügsam und lieb“ gewesen. „Schon verledigt, Mutti“, ist einer der Sätze, an den sich die angeklagte Mutter Antje B., gern erinnert. Sie räumt ein, wegen einer Magen-Darm-Erkrankung am Tag vor Heiligabend 2009 dem Kind kein Insulin verabreicht zu haben. Ihr Ehemann hat keine Erinnerung daran, ob er die Werte gemessen habe. Überhaupt scheint er wenig über die lebensbedrohliche Gefahr für seine Tochter gewusst zu haben. Es schien, als liefe das Mädchen damals so nebenher. Gerade war die jüngere Schwester Ingrun geboren. Sighild teilte sich ein Doppelgitterbett mit dem fast einschulungsreifen Bruder.

Zahlreiche braune Szene-Größen bei der Hochzeit

Sighilds Grab auf der „Ahnenstätte Hilligenloh“, einem Friedhof des rassistischen „Bund für Gotterkenntnis – Ludendorffer“ ziert ein kleiner Findling. Daneben wurde ihr Urgroßvater bestattet. Auch der Urgroßvater mütterlicherseits stand den „Ludendorffern“ anscheinend nahe. Antjes Vater ist im Vorstand der „Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft“.  Antje und Baldur nahmen mit ihrem Ältesten an einem Treffen in Thüringen teil. Bis zu seinem Tod im Oktober 2009 wurde die gefährliche Organisation von dem Neonazi und damaligen Hamburger NPD-Vorsitzenden Jürgen Rieger geleitet. Antje B. brachte sich im Verein bis zu ihrer Hochzeit ein. Die fand mit zahlreichen braunen Szene-Größen statt. Vor Gericht spielt sie die Arier-Sekte geschickt herunter.

Auch Ehemann Baldur stammt aus einer extrem rechten Familie. Kannte die „Wiking-Jugend“ und später die „Heimattreue Deutschen Jugend“ (HDJ). Zum „Sturmvogel“ gab es ebenso Kontakte. Im Prozess will auch er nicht darauf eingehen, behauptet, er sei nur „Patriot“, hänge überhaupt keiner „Ideologie“ an und ohnehin werde man schnell „dämonisiert“. Tatsächlich zogen seine Eltern 1999  mit ihm und elf Geschwistern aus Österreich nach Sachsen, ins verfallene Wasserschloss Noschkowitz bei Döbeln. Das wurde bald  zu einem Szene-Treffpunkt. Der Vater B.s war bereits 1990 Redner bei einem großen Holocaust-Leugner-Kongress in München. Als die Mutter an Krebs erkrankte, soll sie sich nicht herkömmlich behandeln lassen haben, eine Chemotherapie habe sie abgelehnt, bevor sie starb.

Immer wieder erwähnt Baldur B. vor Gericht seinen Vater, erzählt,  dass gesunde Ernährung immer ein Thema in seiner Familie gewesen sei. Ein Anhänger Hamers will er jedoch nicht gewesen sein. Antje räumt ein, eine Freundin in Uelzen zu haben, die ihr den Kontakt zum Hamer-Jünger Helmut Pilhar und dem Meister selbst in Norwegen gemacht haben könnte. Genau wisse sie das nicht mehr. Dass diese Freundin dem völkischen „Sturmvogel“ nahe steht, erwähnt Antje B. nicht.

Stiftung namens „Lebenshilfe“ gegründet

Aufmerksame Ärzte des Klinikums Braunschweig informierten nach Sighilds Diabetes-Diagnose 2007 umgehend das zuständige Jugendamt in der Lüneburger Heide. Als Zeugin erklärte eine Ärztin gestern, die Eltern hätten auf sie den Eindruck gemacht, der Schulmedizin sehr kritisch gegenüber zu stehen. Von einer Rohkost-Therapie war die Rede. In den folgenden zwei Jahren bis zu seinem Tod wurde das Kind tatsächlich nicht von einem Facharzt betreut. Es fiel scheinbar durch das Raster. Insulin-Rezepte wurden von einer Praxis in Uelzen ausgehändigt, Kontrollen lehnten die Eltern ab, Nachweise erfolgten wohl nicht. Auch die anderen Kinder ließen sie wohl aus ideologischen Gründen nicht impfen.

Stark belastet wurden Antje und Baldur B. von Godwin B., dem älteren Bruder, sowie einer Mitbewohnerin in der Wedemark. 2010 war die inzwischen fünfköpfige Familie von Niedersachsen nach Sachsen-Anhalt umgezogen. Der Bruder behauptet, um dem Jugendamt in Niedersachsen zu entkommen. Auch sei über eine Flucht nach Österreich nachgedacht worden. Rund 60 Hektar wollte Baldur nun gemeinsam mit einem seiner Brüder bewirtschaften. Es wurden Firmen und eine Stiftung namens „Lebenshilfe“ gegründet und der Versuch gestartet, über Zwangsversteigerungen und Humusgewinnung Geld zu erwirtschaften. Auch weitere rechte Siedler warb man an.

Anne F. * und ihr Ehemann begeisterten sich für das Projekt. Sie verkauften ihr Haus in der Nähe von Koppelow in Mecklenburg-Vorpommern. Zuvor hatte sie bei einem angesiedelten „Artamanen“ in der Region gewohnt. Eine Verwandte war die inzwischen verstorbene, selbst ernannte „Hohepriesterin“ der „Armanen“, Sigrid Schleipfer, Freifrau von Schlichting. Aufgeregt belastete die rothaarige Frau mit dem Nasenpiercing die Mitbewohner. Sie berichtete von dem Vorwurf einer Schwägerin, Sighild seien „Euthanasie-mäßig“ die Medikamente verweigert worden. Doch die aufgebrachte 36-jährige mehrfache Mutter liegt im massiven Clinch mit den Angeklagten, fühlt sich von ihnen bedroht. Reglos starren Antje und Baldur B. die Zeugin an.

„Sektenmäßige Verbohrheit“ an den Tag gelegt

Als weiterer Belastungszeuge schien der 42-jährige Godwin B., selbst lange Zeit Anhänger der rechtsextremen Szene, nun ehrlich auspacken zu wollen. Der ehemalige Geschäftspartner sprach über Baldur B.s  Finanzgebaren, beide beziehen inzwischen Hartz IV,  und die fanatischen medizinischen Ansichten von Ehefrau Antje. So habe sie regelmäßig an Treffen zur „Neuen Germanischen Medizin“ teilgenommen und eine „sektenmäßige Verbohrtheit“ an den Tag gelegt. Laut der Hamerschen Lehre sollte ein „Wasserkonflikt“ die Ursache für Sighilds Erkrankung sein, das räumte auch Antje B. gestern ein. Das Kind habe demnach einen Schock erlitten, der noch durch das „ungesunde Spiel“ mit dem Bruder verstärkt wurde, als Sighild gar befürchtet habe, in einem Topf gekocht zu werden. Krude Theorien – die Angeklagte scheint sich darüber lustig zu machen. Doch nicht nur dieser  Zeuge mutmaßte, dass sie daran geglaubt haben könnte. Demnach sollte die Heilung über Hamers Methoden erfolgen. Nach dem Tod des Mädchens habe der Vater sich Sorgen gemacht, da sie nie wieder mit ihr bei einem „normalen Arzt“ gewesen seien und das Jugendamt Ende 2009 eine Obduktion veranlasst hatte. Die Verteidiger der B.s versuchten Godwin B.s  Glaubwürdigkeit zu  erschüttern. So habe der mal geäußert, Baldur zu „hassen“ und sich für eine Verurteilung seinerseits rächen zu wollen.

Der Prozesstag am Mittwoch gewährte einen Einblick hinter braune Fassaden: Hier schien ein sehr krankes Kind zum willfährigen Spielball innerhalb einer rechtsextremen Siedler- und Sippengemeinschaft geworden zu sein, in der vor allem zwei Dinge Vorrang hatten: Der Anschein von gesunder heiler Welt und die Verschleierung fragwürdiger Geschäfte auf brauner Scholle.

* Name geändert
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