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„Thüringer Zustände“: Ein Bundesland und die braune Graswurzel

Rechtsextreme Gewalttaten sind 2021 in Thüringen angestiegen. Im Zuge der Corona-Pandemie wurde auch ein Anstieg bei den antisemitischen Vorfällen registriert. Als Bindeglied zwischen Parteienlandschaft und Bewegungsstrukturen hat sich unter anderem die AfD etabliert.

Freitag, 08. Juli 2022
Michael Klarmann
Die Publikation "Thüringer Zustände" thematisiert anhand von elf Beiträgen Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in dem Freistaat
Die Publikation "Thüringer Zustände" thematisiert anhand von elf Beiträgen Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in dem Freistaat

Zurück gehen diese Erkenntnisse auf die Broschüre „Thüringer Zustände 2021“. Sie wurde heute morgen in der Landespressekonferenz im Thüringer Landtag vorgestellt. Axel Salheiser, wissenschaftlicher Bereichsleiter zum Thema Rechtsextremismus- und Demokratieforschung am IDZ in Jena, betonte, die Inhalte der Broschüre bildeten ein „relativ großes Spektrum“ ab. Das liege aber auch daran, dass es in Thüringen „auch große Problemlagen“ in diesen Bereichen gebe.

Vorgestellt wurde nun die zweite Ausgabe der „Zustände“, gemeinsam verantwortet wird sie von mehreren Organisationen. Als Herausgegeber fungieren ezra – Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, die Mobile Beratung in Thüringen (MOBIT), das KomRex – Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und das IDZ – Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft.

Zivilgesellschaftliche und Betroffenen-Perspektive

Thematisiert werden nicht nur der klassische Rechtsextremismus, sondern auch weitere Phänomene der Demokratiegefährdung und der Diskriminierung im Freistaat. Enthalten sind in der Broschüre, die sowohl als gedruckte Fassung gratis bestellt oder online abgerufen werden kann, elf Beiträge und wissenschaftliche Analysen. Dazu gehören auch zivilgesellschaftliche Einschätzungen und Berichte aus der Perspektive von Betroffenen. Die „Zustände“ verstehen sich dabei als Ergänzung zu Veröffentlichungen der Behörden.

Betont wird in einigen Beiträgen, dass Antirassismus- und Antidiskriminierungsarbeit ein wichtiges Thema sei – gleichwohl ausgedehnt werden solle auch auf ländliche Regionen im Freistaat. Antisemitismus, Relativierung des Holocaust und „Schuldabwehr-Antisemitismus“ hätten zugenommen. Treibende Kräfte dabei seien Rechtsextreme und Teilnehmer von Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen. Ziel von Kampagnen sei etwa die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora gewesen. Zugleich erlebten Jüdinnen und Juden Antisemitismus im Alltag. Sie würden „das Verhalten der nichtjüdischen ‚Mehrheitsgesellschaft‘ ihnen gegenüber oft als subtile Ablehnung oder Exotisierung“ wahrnehmen.

Gefahr durch rechte Gewalttäter

Die Broschüre widmet sich auch der polizeilich erfassten Hasskriminalität in Thüringen und etwaiger Mängel und Untererfassungen bei der behördlichen Zählweise. Gleichwohl wird betont, „dass die polizeilich dokumentierte Hasskriminalität fast ausschließlich mit einer rechtsextremen Tatmotivation bzw. von solchen Täter:innen verübt wird, die dem rechten politischen Spektrum zugeordnet werden.“ In Thüringen gehe eine Gefahr für Angehörige „ethnischer, kultureller und sozialer Minderheiten“ durch rechte Gewalttäter aus.

Auszug aus der Veröffentlichung "Thüringer Zustände"
Auszug aus der Veröffentlichung "Thüringer Zustände"

Bei der Hasskriminalität und den Gewalttaten wurde ein stetiger Anstieg bilanziert. Insgesamt zählte ezra vergangenes Jahr 119 Angriffe, von denen mindestens 177 Menschen direkt betroffen und 30 mit angegriffen waren. Die meisten Angriffe fanden in Erfurt (28) und Jena (16) statt. Im Jahr 2021 registrierte ezra auch Angriffe im Kontext der Corona-Pandemie und stufte sie erstmals als rechte Gewalt ein. Festgestellt wurde dabei eine Zunahme von Angriffen auf Medienvertreter. Dazu heißt es: „Vor allem freie Journalist:innen wurden am Rande von rechten ‚Querdenken‘-Protesten immer wieder beleidigt, bedroht, in die Ecke gedrängt, am Fotografieren gehindert, gestoßen und geschlagen.“

Übergreifende Mobilisierung am rechten Rand

Angenommen wird, dass die rechtsextreme Szene Proteste aus dem Lager der „Querdenker“ und Verschwörungsgläubigen über für sie austauschbare Themen – Stichworte: Putin, Russland und Ukrainekrieg – weiterhin nutzen und mit prägen wird. Ferner wird in den „Zuständen“ eine Radikalisierung befürchtet, an deren Ende Terroranschläge stehen könnten. Schon 2021 haben sich demnach alle rechtsextremen Kräfte – AfD, Neonazi-Parteien, „Reichsbürger“, Holocaust-Leugner – und Pandemie-Leugner bei Durchführung von, Mobilisierung zu und Teilnahme an den Protesten und „Spaziergängen“ ergänzt.

Hingewiesen wird auf die aktionistische und äußerst radikal agierende Miniaturpartei „Neue Stärke“ mit Schwerpunkt in Erfurt und Gera. Weiterhin brisant seien belegbare ideologische und personelle Verbindungen der Thüringer AfD hin zur Neonaziszene. Genannt wird in diesem Zusammenhang in den „Zuständen“ die „enge“ Bekanntschaft zwischen dem rechtsextremen AfD-Landeschef Björn Höcke und dem NPD-Kader Thorsten Heise aus Fretterode.

Blinde Flecken in der Justiz

MOBIT-Projektleiterin Romy Arnold betonte bei der Pressekonferenz, zwar seien Rechtsrock-Events 2021 weiter rückläufig gewesen. Gleichwohl sei der Freistaat das Bundesland mit der „höchsten Infrastruktur“ zur Durchführung von Konzerten oder Festivals. Laut Broschüre waren die „Turonen“ in den letzten Jahren der zentrale Akteur in diesem Bereich. Sie wurden jedoch erstmals im Februar 2021 im Zusammenhang mit Drogenhandel und Geldwäsche Ziel umfangreicher Ermittlungen. Ein Prozess wegen eines brutalen Überfalls in Ballstädt durch „Turonen“ endete hingegen mit Bewährungsstrafen. Der Prozess zeige laut Broschüre „erhebliche Defizite innerhalb der Thüringer Justiz“ und der Landespolizei, die Gefahren von rechts als solche für die gesamte Gesellschaft wahrzunehmen.

Thüringen ist einer der Hotspots der AfD, nicht zuletzt dank Björn Höcke als deren Mastermind, dem in der Partei als „Thüringer Weg“ bezeichneten radikalen Auftreten und den Wahlerfolgen bei der Bundestagswahl. Rückblickend heißt es dazu in den „Zuständen“, dass die früher „als Protestwahl bezeichnete Wahl der AfD […] durch Überzeugung abgelöst“ worden sei. Zukunftsängste, Nationalismus und Feindlichkeit Migranten gegenüber bilden demnach nun den ideologischen Kitt bei AfD-Anhängern.

Der „Thüringer Weg“ der AfD

Die Broschüre konstatiert ebenso: „Schon seit Jahren spielt unter den extrem rechten Parteien in Thüringen die AfD die zentrale Rolle.“ Unter anderem in Sachen Wahlen und „Mobilisierungsfähigkeit auf der Straße hat sie den Neonazi-Parteien längst den Rang abgelaufen.“ Im Vorfeld der Bundestagswahl habe die AfD in Thüringen insbesondere in den ländlichen Regionen hunderte Infostände abgehalten. „Teilweise kündigten Abgeordnete ‚Dörfertouren‘ in ihren Wahlkreisen an, bei denen mehrere Infostände pro Tag stattfanden.“ Augenscheinlich habe die AfD eine Omnipräsenz kreieren wollen. Cynthia Möller, KomRex-Geschäftsführerin, sprach bei der Pressekonferenz davon, die AfD habe sich in ihrem Sinne „positiv stabilisiert“, was aber für die Zivilgesellschaft im Freistaat „bedenklich“ sei.

Ausführlich eingegangen wird in der Broschüre auf den Mord an Mario K. in Altenburg – das Motiv war Hass auf Homosexuelle. Zwar trug sich die Bluttat Anfang 2020 zu, gleichwohl bewerten die „Thüringer Zustände 2021“ nun die Erkenntnisse aus dem Prozess im vergangenen Jahr. Die Täter werden dabei als rechtsradikal eingestuft oder ihnen werden „Verbindungen zu einer mindestens rechtsoffenen Subkultur“ attestiert. Hingewiesen wird in diesem Kontext auch auf LSBTIQA*-feindliche Aktionen und Angriffe „in der vermeintlich bunten und weltoffenen Landeshauptstadt […]. Schon seit Jahren melden […] die in Erfurt organisierten militanten Neonazis Gegenkundgebungen zum örtlichen CSD an.“

LSBTIQA*-feindliche Gewalt

Franz Zobel, Projektkoordinator bei ezra, erinnert bei der Pressekonferenz im Landtag in diesem Zusammenhang an eine aktuell bedenkliche Entwicklung in Weimar. Dort will das „Café Spunk“ nach wiederholten rechten Angriffen aufgeben. Es sieht sich selbst als „antirassistisches, antifaschistisches und queerfeministisches“ Café. Zobel sprach davon, dass es ein „Schutzraum“ darstelle für Menschen aus solchen Zusammenhängen. Die Angriffe zeigten, dass Weimar ein „Naziproblem“ habe. Zugleich versagten Politik und Sicherheitsbehörden, weil etwaige Angriffe eher hingenommen, anstatt verhindert würden.

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