Rezension

Thüringen: Testfall für die Demokratie

Eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung, ein Ministerpräsident der Linken und eine machthungrige AfD mit dem exponierten Vorsitzenden Björn Höcke. Die politische Situation in Thüringen ist schwierig. In seinem neuen Buch analysiert der Journalist Martin Debes den Zustand seines Bundeslandes als „Land der Extreme“.

Freitag, 12. April 2024
Kai Budler
Buchcover "Wie Thüringen die Demokratie herausfordert"
Buchcover "Wie Thüringen die Demokratie herausfordert"

Im Vorfeld der Landtagswahl am 1. September werden wahrscheinlich wieder Dutzende Journalist*innen nach Thüringen reisen, um die politische Stimmung zu erkunden. Bei ihrem Vorhaben wären vor allem Westdeutsche gut beraten, vorher das Buch „Deutschland der Extreme“ ihres Thüringer Kollegen Martin Debes gelesen zu haben. Kenntnisreich und zugleich leichtfüßig vermisst der langjährige Chefreporter der „Thüringer Allgemeinen“ das widersprüchliche Bundesland und untersucht, „Wie Thüringen die Demokratie herausfordert“.

Denn obwohl in Thüringen nur ca. drei Prozent der deutschen Bevölkerung leben, treten hier die Konfliktlinien sichtbar zu Tage, die künftig auch die gesamte Republik beschäftigen könnten. „Genau ein Jahrhundert nachdem in Weimar erstmals Bürgerliche mithilfe völkischer Extremisten regierten, wird in Erfurt die Demokratie vor einer neuen, schweren Herausforderung stehen“, konstatiert der gebürtige Thüringer angesichts der bevorstehenden Wahlen.

Vom Machtlabor der Nazis zum Tabubruch

Debes zieht historische Parallelen zum damaligen Machtlabor der Nazis, ohne dabei in ahistorische Analogien zu verfallen. Dies gilt auch für die historische Herleitung der strukturellen Situation Thüringens, für die Debes mühelos den Bogen zur historischen Kleinstaaterei schlägt, ohne dass sein Buch zum staubigen Geschichtswerk verkommt. Spannend wird es mit der Beschreibung Thüringens nach der Wiedervereinigung, die Debes als „Einheit ohne Vereinigung“ beschreibt, die fast schon einem Politkrimi gleicht.

Sie beginnt dem Erfolg der CDU bei den Landtagswahlen 1990 mit 45,4 Prozent der Zweitstimmen und allen 44 Direktmandaten. Doch schon zu diesem Zeitpunkt – so Debes – zeige sich, „was die Thüringer Landespolitik bis heute prägt: Das Reservoir an gleichermaßen unbelasteten, qualifizierten und machtbewussten Menschen ist nach mehr als einem halben Jahrhundert Diktatur ziemlich klein“.

Knapp 15 Jahre später reichen der CDU nach der Landtagswahl 43 Prozent der abgegebenen Stimmen, um im Parlament mit drei Fraktionen eine Ein-Sitz-Mehrheit gegen Linke und SPD zu erringen. Eine Situation, die der AfD-Vorsitzende Björn Höcke aktuell immer wieder für seine Partei ins Spiel bringt. Erst 2009 endete im Landtag die Zeit des Drei-Parteien-Parlaments, fünf Jahre später ging die Regierungsära der CDU zu Ende.

Dafür tritt eine neue Partei auf den Plan: die AfD mit ihrem Vorsitzenden Björn Höcke, der Debes ein ganzes Kapitel widmet. Er skizziert sie als Teil einer neuen „Front aus AfD, Neuer Rechter und Neonazis“ und mutmaßt: „Es ist diese Mischung aus Ressentiments und Extremismus, aus Angst und Trotz, aus dem Gefühl der Zweitklassigkeit und tatsächlicher ökonomischer Benachteiligung, die höchstwahrscheinlich die Basis des besonderen Erfolgs der AfD in Ostdeutschland bildet“.

2020 kommt es im Landtag zum Tabubruch, als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP zum Ministerpräsidenten gewählt wird. Es folgt nicht nur ein bundesweiter Aufschrei, sondern auch die Einsicht, „dass die Demokratie in Thüringen aus der Geschichte des Landes heraus besonders verwundbar ist“, schreibt der Journalist mit Verweis auf seine politisch historischen Skizzen am Anfang des Buches. Die anschließende Pandemie und die Gegenmaßnahmen hätten den „Eindruck der parlamentarischen Dysfunktionalität“ nur verstärkt und schon vorhandene Ressentiments und Verschwörungsthesen genährt.

Thüringen als Versuchslabor

Das Buch „Deutschland der Extreme“ kommt zur rechten Zeit vor den Kommunal- und Europawahlen sowie der Landtagswahl in Thüringen. Die Kapitel der fast atemlosen Reise durch Thüringen beginnen stets mit einer szenischen Einleitung, der Analyse und Hintergrund folgen. Teilweise muten die Thüringer Polit-Tragödien wie ein Kammerspiel an mit einem Personal, dessen Fehler in ihrer Aneinanderreihung kaum mehr verwundern können.

Debes beschreibt nicht nur kenntnisreich die politische Geschichte des Bundeslandes, er zeigt auch die Selbstblockade der Politik auf, zu der die Fallstricke der Machtpolitik geführt haben. Als Sieger geht daraus die AfD hervor, stets darauf bedacht, die parlamentarische Demokratie verächtlich zu machen. Dazu beigetragen hat auch die Schlingerpolitik der CDU, wenn es um ihr Verhältnis zur Partei unter Björn Höcke geht. Das zeigen die aktuellen Beispiele am Ende des gut lesbaren Buches, in denen der Autor die Zusammenarbeit mit der AfD auf den verschiedenen Ebenen skizziert. Einziger Wermustropfen in dem gut lesbaren Buch: Auch Debes geht der Hufeisentheorie auf den Leim, wenn er im Interview mit dem MDR AfD und Linke gleichermaßen als „extrem“ bezeichnet und damit gleichsetzt. Das ist schade, aber vielleicht ein zusätzliches Kapitel der Politik in Thüringen.

Martin Debes: „Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert“, Ch. Links Verlag, 280 Seiten, 20,00 Euro

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