Rezension

Streitschrift gegen die AfD-Machtergreifung

Das Buch „Machtübernahme“ von Arne Semsrott ist parallel zu den Europawahlen erschienen. Die Wahlerfolge der AfD dürften seine Aktualität noch verstärken. Es ist eine Mischung aus Dystopie und Warnung, Streitschrift und Plädoyer für die Abwehr einer Machtübernahme durch extrem rechte Kräfte.

Donnerstag, 27. Juni 2024
Michael Klarmann
Der Autor des Buches, Arne Semsrott, zeigt darin auf, was passieren könnte, wenn Rechtsextremisten an die Macht kommen. Foto: privat
Der Autor des Buches, Arne Semsrott, zeigt darin auf, was passieren könnte, wenn Rechtsextremisten an die Macht kommen. Foto: privat

„Eigentlich kommt dieses Buch zu spät. Denn die Gefahren von rechts sind schon lange bekannt. Die Mehrheitsgesellschaft hat nur nicht zugehört.“ Das merkt Semsrott schon recht bald an in seiner Einleitung zu „Machtübernahme. Was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren – Eine Anleitung zum Widerstand.“ Der Autor ist zivilgesellschaftlicher Aktivist, maßgeblich engagiert bei „FragDenStaat.de“ und Projektleiter des „Gegenrechtsschutzes“. Darüber hinaus ist er ein exzellenter Kenner des Rechtsstaates sowie des Politikbetriebs und kennt die Abläufe, Tücken und Lücken, die der AfD eine Machtübernahme ermöglichen könnten.

Zugleich ist er ein Streiter für eine liberale, offene Zivilgesellschaft – und ein Träumer. Manches, was er beschreibt, dürfte vor allem Konservativen die Zornesröte ins Gesicht treiben. Die AfD und ihre „Genossen“ hingegen werden sich zwar auch aufregen – aber kaum Neues erfahren. In der rechtsradikalen Partei und erst recht in ihrem rechtsextremen Teil und Umfeld sind hochintelligente Strategen längst damit beschäftigt, alle Lücken, die ihnen der Rechtsstaat bietet, zu nutzen oder sich diese vorzumerken. „Große Teile der AfD-Mitglieder kennen die Geschichte sehr gut. Für sie dient sie nicht zur Abschreckung, sondern als Vorbild“, stellt Semsrott fest. Wenn sie das Sagbare verschieben (wollen), haben sie in Wahrheit also die Verschiebung des Machbaren vor Augen.

Verschiebung des Machbaren

Und wie würde das Machbare aussehen? „Machtübernahme“ beginnt mit einem dystopischen Intro, in dem das Fiktionale und das Reale verschwimmen. Die AfD hat noch nicht wirklich die Macht übernommen, aber sie ist an Regierungen beteiligt, stellt Minister und beeinflusst so Verwaltung, Behörden, Medien und Zivilgesellschaft. Das klingt (noch) nicht nach dem brachialen Durchmarsch der NSDAP von einst, es erinnert eher an den schleichenden Umbau einer Demokratie und Gesellschaft nach dem Vorbild Ungarns.

In weiteren Kapiteln konkretisiert Semsrott, wie weit die AfD real bereits gekommen ist und wo sie bereits direkt oder indirekt Einfluss nehmen oder demokratische, zivilgesellschaftliche Strukturen ausforschen, bedrängen und bekämpfen kann. Dabei werden manche Dinge deutlich: Der Verwaltungsapparat und das Beamtentum, mitunter auch die Justiz, wären wohl wieder anfällig für den Einmarsch extrem rechter Kräfte in den Rechtsstaat. Auch wenn der Verfasser weiß, dass Beamte, Rechtsstaat und Verwaltung heute nicht mit jenen in der Weimarer Republik vergleichbar sind, so schildert er doch anschaulich genug, dass das System erneut anfällig für eine Andienung an neue Verhältnisse wäre. Es hätte aber auch die Macht, derlei solide auszubremsen oder zu verhindern.

Entzauberung als Türöffner

Semsrott beschreibt zudem, dass insbesondere konservative Kräfte und Medien, aber auch Teile der Sozialdemokratie Inhalte der AfD aufgreifen und verstärken. Ähnlich wie beim Aufstieg und der Machtergreifung der NSDAP sieht der Autor die Gefahr, dass neben dem Verwaltungsapparat, der Beamtenschaft und der Justiz vor allem konservative politische Kräfte zu Kooperationen und Koalitionen bereit sind. Die einen wollen die AfD oder extrem rechte Kräfte bekanntlich so einhegen, die anderen diese in der täglichen politischen Arbeit entzaubern. Hier erinnert Semsrott daran, dass die Konservativen schon in der Weimarer Republik damit gescheitert sind und dem mörderischen Faschismus und Nationalsozialismus Tür und Tor geöffnet haben.

Der Autor fabuliert in der einleitenden Dystopie und beschreibt in den weiteren Kapiteln sachlich nicht nur das Reale – er formuliert auch, wie die betroffenen Bereiche von Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft Widerstand oder zivilen Ungehorsam gegen die AfD leisten könn(t)en. Sei es jetzt – oder dann, wenn die Partei immer mehr an Macht und Einfluss gewinnt oder gewonnen hat. Das Schlimmste zu verhindern erfordert zwar heute schon in manchen Teilen des Landes Mut – später aber wird es noch viel mehr Mut benötigen, und den werden dann wohl immer weniger haben.

Lackmustest für Mutbürger

„Machtübernahme“ ist ein lesenswertes und wichtiges Buch. Semsrott spart auch andere Parteien nicht aus. Er zeigt auf, das manche im System nicht präferierten Minister-Vorhaben schlicht in den Mühlen der Verwaltung versandeten und nie umgesetzt wurden – gleichzeitig setzten Verwaltungen auf Geheiß ihrer Dienstherren manches nicht um, was Gerichte oder Politik rechtmäßig einforderten oder beschlossen hatten. Minister regieren und entscheiden ergo manchmal selbstherrlich. Für Semsrott ähnelt das einer Art – Vorsicht Wortspiel – Blaupause: Verwaltungen oder Beamte handelten zuweilen nicht rechtmäßig, wenn sie dem Dienstherren folgten, und auch spätere AfD-Machthaber werden das eines Tages einfordern.

In seinem Plädoyer für den Widerstand gibt Semsrott wichtige Hinweise zur Stärkung der Demokratie und zur Gefahrenabwehr. Sein Appell für eine lebenswerte, liberale, weltoffene und demokratische Gesellschaft als Schutz vor rechten Kräften dürfte allerdings manchen Konservativen in einigen Teilbereichen zu weit gehen und sie zur Weißgut treiben. Der Autor wird sich deshalb wohl harsche Kritik anhören müssen, als Sozialromantiker, Menschenrechtsfanatiker oder Gutmensch und Phantast gelabelt werden. Man darf gespannt sein, wer dann mit wem im rhetorischen Gleichschritt marschiert.

Arne Semsrott: Machtübernahme. Was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren – Eine Anleitung zum Widerstand. 240 Seiten

 

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