Hindunationalismus
Spaltung und Polarisierung in der indischen Diaspora in Deutschland
Teile der indischen Diaspora sind besorgt über den wachsenden Einfluss von Hindunationalismus in Deutschland und beobachten organisierte Versuche, Hindus in Deutschland gegen Muslime aufzuhetzen.

Von Mai bis Ende Juni tourte ein indischer Regisseur, Vivek Agnihotri, durch Europa, und einige sind begeistert, andere wiederum entsetzt. Denn der Film The Kashmir Files, der in Indien zum Blockbuster wurde und den der Regisseur auf der Tournee bewirbt, behauptet, die Geschichte von durch Muslime verfolgten Hindus in Kaschmir zu erzählen. Kritiker haben jedoch darauf hingewiesen, dass der Film sachlich inkorrekt ist, und gar als Propagandamittel der Regierung dient. Immerhin wurden in sozialen Medien Videos geteilt, die zeigen, wie Besucher des Films dazu aufrufen, Rache gegen Muslime zu verüben.
In Deutschland machte der Regisseur sieben Stopps, doch alle Events fanden privat hinter verschlossenen Türen statt und können somit nicht von der Öffentlichkeit eingesehen werden. Menschenrechtsgruppen wie India Justice Project äußerten sich besorgt über die Vorführung des Films in Deutschland: Sie sehen vermehrt Zeichen für eskalierenden Hindunationalismus in der indischen Diaspora.
Aber was ist Hindunationalismus, und wie erreicht die Ideologie die indische Diaspora abgesehen von den „The Kashmir Files“-Veranstaltungen?
Was ist Hindunationalismus?
Es gibt wohl kein Land, das religiös vielfältiger ist als Indien: Von diversen hinduistischen Kulten, Sufis, sunnitischen und schiitischen Muslimen, Protestanten und Katholiken, zu Parsis, Buddhisten, Jains, Sikhs, und Juden. Diese Diversität ist auch in Indiens säkulärer Verfassung verankert.
Hindunationalisten, allerdings, sehen keinen Platz für Religionen, die nicht ursprünglich aus Indien kommen, denn Hinduismus ist für sie keine Religion, sondern eine Rasse, deren Reinheit aufrecht erhalten werden muss. Genau wie Nationalsozialismus, Antisemitismus, Zionismus, Islamismus und White Supremacism sieht also auch hindunationalistische Ideologie die bloße Existenz von Nicht-Hindus als Bedrohung an. Hindunationalisten ernten somit in extremistischen Kreisen Sympathie: Anders Breivik, ein selbsternannter „Anti-Jihadist“ der 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete, bezeichnete hindunationalistische Gruppierungen als „Hauptverbündete“ in einem „globalen Kampf“.
Hindunationalismus entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und wie Politikwissenschaftler Christophe Jaffrelot zeigt waren die Gründerväter stark vom europäischen Nationalsozialismus inspiriert. Narrativ bedeutet das, dass Hindunationalisten behaupten, Hindus selbst seien in Gefahr. Man müsse den Feind besiegen, bevor er zuschlägt, will zum Beispiel der virale Hashtag #HinduGenocide - Hindu-Völkermord - vermitteln. Eine solche Projektion gilt in Fachkreisen als Warnzeichen für Gewalteskalation, da eine dominante Gruppe dadurch ihre eigenen Gewalttaten zunehmend legitimieren kann.
Die indische Regierung und Hindunationalismus
Die bekanntesten Verfechter des Hindunationalismus sind Mitglieder der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) (übersetzt: Nationale Freiwilligenorganisation). Sommerlager der RSS bieten Kampftraining an, und RSS-Mitglieder posieren auf Fotos oft mit Waffen. Es ist somit nicht unbedingt verwunderlich, dass RSS-Mitglieder nachgewiesen Terroranschläge begangen haben.
Da die Bharatiya Janata Party (BJP), Indiens Regierungspartei, der politische Flügel der RSS ist, sind die BJP und RSS ideologisch und praktisch eng verknüpft. Selbst Indiens Premierminister Narendra Modi ist seit seiner Kindheit Mitglied. Somit rückt radikaler Hindunationalismus mit der BJP immer weiter in den Mainstream.
Diaspora Polarisierung in Deutschland nimmt zu
Als Modi im Mai Berlin besuchte, um sich mit Scholz zu treffen, jubelte ihm die Menge zu: „2024, Modi once more“ – ein Plädoyer zur Wiederwahl Modis. Im Hintergrund waren entfernte Rufe wie “Modi down down” – nieder mit Modi – zu hören, jedoch war es diesen Demonstranten nicht erlaubt worden, an dem Event der indischen Botschaft teilzunehmen.
Radikale Stimmen werden durch aktive Bemühungen der BJP-Regierung und seinen ausländischen Zweigen, ihre Landsleute im Ausland für das hindunationalistische Projekt zu verwenden, amplifiziert. Professor Ashok Swain der Universität Uppsala betonte zum Beispiel, dass Botschaften und Konsulate von der BJP-Regierung aufgefordert werden, hindunationalistische Aktivitäten und Events aktiv zu fördern.
Als 2020 in Hamburg die India Startup Konferenz stattfand, lud das Generalkonsulat einen BJP-Abgeordneten als Sprecher ein. Dutzende besorgte Inder:innen protestierten laut dagegen und machten darauf aufmerksam, dass der Sprecher frauenfeindliche Kommentare geäußert hatte und gesagt hatte, Hindus müssten „Parteien wählen [...], die ausschließlich Hindus beschützen”. Mitglieder der indischen Diaspora warnten: Die Präsenz dieses Abgeordneten bei einem Event für Inder:innen in Deutschland würde nur zur Spaltung und Radikalisierung beitragen. Andere Inder:innen in Deutschland jedoch twitterten, dass sie sich von ihm inspiriert gefühlt hatten.
Hindunationalisten suchen Engagement in deutscher Politik
Der Auslandszweig der oben beschriebenen RSS, die der indischen BJP-Regierung ihre ideologische Richtung gibt, hat auch in Deutschland mehrere Ortsgruppen. Unter dem Namen HSS – Hindu Swayamsevak Sangh (Hindu Freiwilligenorganisation) – gibt es zum Beispiel in Hamburg-Pinneberg, Darmstadt-Dieburg, München, Berlin und anderen Großstädten Lokalgruppen. Sie bezeichnen sich selbst als „kulturelle“ Organisationen, und zu ihren Aktivitäten gehören Events, die es „hinduistischen Kindern in Deutschland ermöglichen, ihre kulturellen Wurzeln zu schätzen und hinduistische Werte zu lernen“. Doch wie Sozialwissenschaftlerin Martha Nussbaum schreibt, bietet die HSS eine verzerrte Interpretation des Hinduismus.
Vermehrt interagieren Mitglieder der HSS auch mit lokalen Politikern. 2020 lud zum Beispiel der Münchner Ortsverband eine bayerische Landtagsabgeordnete der Grünen ein, um gemeinsam über die indische Community in Deutschland zu reden. Sie sagte den Termin jedoch ab, nachdem sie auf den Hintergrund der HSS aufmerksam gemacht worden war. Dass die HSS vermehrt mit der deutschen Politik interagiert, beunruhigt einige Kommentatoren, denn immerhin zeigt ein kürzlich veröffentlichter Bericht, dass Hindunationalisten bereits Wahlen beeinflusst haben.
Noch ist die Präsenz von Hindunationalismus in Deutschland überschaubar und relativ subtil. Doch anderwärtig ist die Spaltung der indischen Diaspora bereits in Gewalt ausgeartet. Als im vergangenen Jahr in Indien Sikhs gegen die Regierung demonstrierten, wurden auch Sikhs in Australien mit Hämmern und Schlägern angegriffen. In Kanada ging ein Video viral, in dem ein Vlogger mit indischer Herkunft verkündet, er unterstütze das Töten von Muslimen und Sikhs – sie “verdienen es”, sagte er vor laufender Kamera.
Eines ist zumindest klar: Ereignisse in Indien sind grenzübergreifend.
Alena Kahle und Dr. Ritumbra Manuvie sind Mitarbeiterinnen des in den Niederlanden ansässigen Think Tanks "London Story", die Organisation setzt sich für Menschenrechte ein und klärt über die Gefahren von Desinformation sowie Hate Speech auf.