„Seelisch krankes Herzland“? – Thorsten Hinz über die „deutsche Mentalität“

Bereits im Januar 2010 hatte Thorsten Hinz in einem Artikel der Wochenzeitung „Junge Freiheit“ (JF) am Beispiel Ernst Blochs auf die bemerkenswerte Tatsache aufmerksam gemacht, dass Singularitäts- wie Alleinschuldthese in Deutschland keinesfalls erst Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs sind. Den Ursachen für eine aus seiner Sicht viel tiefer liegende „deutsche Mentalität“ geht er nun in dem neuen lesenswerten Buch „Psychologie der Niederlage“ (2010) nach.

Donnerstag, 30. September 2010
Mathias Brodkorb
„Seelisch krankes Herzland“? – Thorsten Hinz über die „deutsche Mentalität“
Der marxistische Philosoph Ernst Bloch hatte mit 32 Jahren im Schweizerischen Exil lebend und unter Pseudonym in der „Freien Zeitung“ während des Ersten Weltkriegs Deutschland als „radikal Böses“ (Bloch 1985b: 435) bezeichnet und ihm gegen Ende des Ersten Weltkriegs die alleinige Schuld zugewiesen: „Nur wir aber sind schuldig, denn wir waren am meisten verwahrlost und krank.“ (ebd. 433). Bloch bot somit bereits damals alle Superlative, wonach es den heute so genannten deutschen „Schuldstolz“ so heiß und innig gelüstet: nach „Reue und Selbsteinkehr (...) Indes, das deutsche Volk kehrt nicht in sich ein. Es schlägt nicht an seine eigene Brust, es will Unrecht tun, ohne selbst gerechteste Sühne erleiden zu wollen.“ (Bloch 1985a: 429) Hinz will also den tieferen Ursachen für die ausgreifende deutsche Lust am „Schuldstolz“ nachgehen – übrigens eine Vokabel, die alles andere als „rechts“ geerdet ist und von Hinz nicht einmal verwendet wird. Erfunden hat sie vor vielen Jahren der „Zeit“-Autor Jörg Lau. Der Anlass hierfür war der Wilkomirski-Skandal. Binjamin Wilkomirski hatte für sich selbst eine herzzerreißende Überlebendengeschichte erfunden und daraus sogleich ein Buch gebastelt. Die wissenschaftliche wie publizistische Öffentlichkeit war von der Authentizität des Werkes überzeugt und schwer begeistert – bis sich herausstellte, dass alles erstunken und erlogen war. Lau stellte sich die Frage, wie es denn sein könne, dass eine kritische und gebildete Öffentlichkeit sich dennoch so nachhaltig an der Nase herumführen lasse und entdeckte den „Schuldstolz“ als einen Akt der Selbstinszenierung: „Es schmeichelt der moralischen Eitelkeit des Kritikers, einen Text voll derartiger Schrecken mit gleichsam versagender Stimme zu loben. An solchen Auftritten voller Schuldstolz ist etwas faul." (Lau 1998) Der „Schuldstolz“ erweist sich somit letztlich als eine andere Art der Instrumentalisierung der Opfer des Holocaust zu egozentrischen Zwecken. Hinz sieht dabei die "deutsche Mentalität" letztlich mit der geografischen "Mittellage" Deutschlands, seiner politischen wie ökonomischen Potenz sowie den Weltkriegs-Niederlagen verknüpft. Die Einheit der Deutschen Nation hätte aufgrund ihrer Mittellage eine "militärisch bedingte Gesellschaftsform" (78) erzwungen und die "im deutschen Nationalstaat schlummernde politische, wirtschaftliche, intellektuelle, demographische Potenz" (66) in einem imperialistisch geprägten Umfeld Deutschland in eine schwierige Situation gebracht: "Der Drang zur Weltpolitik entsprang nicht nur wirtschaftlichen Erwägungen, sondern einem allgemeinen Zeitgeist, der von den ungeheuren Lebensenergien gespeist war, die der Wandel zur Industriegesellschaft freigesetzt hatte." (61) Mit anderen Worten: Nahezu alle europäischen Staaten waren zur Jahrhundertwende von imperialistischen Ansprüchen beseelt und haben daher auf ihre Weise zur Entstehung des Ersten Weltkriegs beigetragen. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg hätte es seinen Gegnern schließlich ermöglicht, den vielleicht potentesten Akteur auf eine untergeordnete Stellung zu verweisen und so außerdem den Nährboden für den Zweiten Weltkrieg bereitet. Der „Schuldstolz“ der Deutschen erweist sich für Hinz somit als das psychologische Gegenstück zu den handfesten Machtinteressen anderer Staaten. Insbesondere dieser Tage riecht ein solcher Hinweis allerdings nach „Revisionismus“ und „Relativierung der Alleinschuld Deutschlands“. So erbärmlich wie entsprechende öffentliche Debatten läuft allerdings kaum eine Geschichtsstunde in der Oberstufe deutscher Gymnasien ab – von den historischen Fachdiskursen ganz zu schweigen. In seinem Werk „Zeitalter der Extreme“ hält es der angesehene marxistische Historiker Eric Hobsbawm bspw. für eine Selbstverständlichkeit, dass der „Versailler Vertrag keine Basis für einen dauerhaften Frieden sein konnte. Er war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, und daher war ein neuer Krieg praktisch gewiß.“ (Hobsbawm 1997: 53) Sobald dies jedoch anerkannt wird, ergibt eine enge Interpretation einer ominösen „Alleinschuldthese“ nicht mehr viel Sinn. Minutiös listet Hobsbawm in „negativer Spiegelung“ das außenpolitische Versagen der internationalen Gemeinschaft im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges auf und erweitert so den in Betracht zu ziehenden kausalen Gesamtzusammenhang in sachlich gebotener Weise (ebd.: 57). Allerdings sind derartige Erkenntnisse alles andere als neu. Der linke Vorzeigeökonom John Maynard Keynes bspw. gehörte auch der britischen Delegation bei den Verhandlungen zum „Versailler Vertrag“ an. Diese verließ er kurz vor Abschluss der Verhandlungen allerdings aus Protest, weil er die Deutschland auferlegten Bedingungen für unzumutbar und für eine Gefahr für den künftigen Frieden in Europa hielt: „Ich selbst bin der Ansicht, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist, die gesamte Verantwortung für die Umstände, die zum Kriege führten, einer einzigen Nation aufzubürden; er wurde, wenigstens zum Teil, durch den grundsätzlichen Charakter der internationalen Politik und des allgemeinen Wettbewerbes zum Schlusse des 19. Jahrhunderts, durch den Militarismus (in Rußland ebenso gut wie in Deutschland und Oesterreich-Ungarn) sowie die allgemein gebräuchlichen Richtsätze des wirtschaftlichen Imperialismus hervorgerufen. Die Saat des Krieges entsproß den Tiefen der neueren Geschichte Europas.“ (Keynes 1921: 5f) Zumindest in diesem Punkte sind sich Keynes und Hinz also grundsätzlich einig. Insbesondere liberal und links (oder marxistisch) angehauchten Politikkonzepten liegt nun in der Regel die Auffassung zugrunde, dass Politik nichts anderes sei als die Vertretung von Interessen. Während Liberale in diesem Zusammenhang auf Seiten des Kapitals stehen, stellen sich Linke noch immer mehrheitlich auf die Seite der Arbeit. Hinz macht mit seinem Text auf die nicht ganz unbedeutende Tatsache aufmerksam, dass in anderen Staaten der Interessenansatz nicht nur im Rahmen innenpolitischer Auseinandersetzung, sondern auch im zwischenstaatlichen Kontext gegolten hat und weiterhin gilt. Der deutsche „Schuldstolz“ erscheint ihm unter den Bedingungen der Globalisierung folglich als ein elementarer machtpolitischer Wettbewerbsnachteil, an dem andere Nationen jedoch ein ebenso elementares Interesse hätten und diesen deshalb auch aktiv am Leben zu halten versuchten. So, wie die historisch vermittelte kollektive „Demut“ (Bloch) manch einer Gruppierung innenpolitisch zur Eigenprofilierung und moralischen Selbstaufwertung dienen mag, führt sie außenpolitisch dazu, sich ggf. selbst zum nützlichen Idioten ausländischer nationaler, bisweilen sogar nationalistischer Interessen zu degradieren – und insofern können auch Linke etwas von Hinz lernen. Die Auswirkungen der in diesem Zusammenhang im Nachkriegsdeutschland ins Spiel gebrachten „reeducation“ sieht Hinz dabei bis in die „Biopolitik“ hinein gegeben, der er sogar ein ganzes Kapitel widmet. Indes nötigt die historisch banale Einsicht, dass durch Unterlassen ebenso wie aktives Handeln sowohl am Zustandekommen des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs außen- wie innenpolitisch keinesfalls nur Nationalisten und Nationalsozialisten ihren Anteil hatten, keinesfalls dazu, selbst einen rechten Standpunkt einzunehmen. Denn für die Beurteilung entscheidend sind ja nicht nur die sonstigen Randbedingungen, sondern zuallererst die Motivationen der handelnden Akteure selbst. Dass Hitler in diesem Zusammenhang den „Versailler Vertrag“ keinesfalls nötig hatte, macht ein Blick auf die innere Struktur seines Denkens deutlich. In seinem zweiten, posthum veröffentlichten Buch entfaltete er im Jahre 1928 sein Programm in aller logischen Stringenz und politischen Brutalität. Als oberste Werte des Menschen sowie der Völker bestimmte er die "beiden mächtigsten Triebe des Lebens: Hunger und Liebe" (Hitler 1961: 46). Wird die Selbsterhaltung von Menschen und Völkern unter den Bedingungen begrenzter Ressourcen jedoch zum höchsten Wert erklärt, ist die Kriegsdynamik vorgezeichnet: "Das erste Recht auf dieser Welt ist das Recht zum Leben, sofern man die Kraft hierzu besitzt. Ein kraftvolles Volk aber wird damit aus diesem Recht stets die Wege finden, seinen Boden seiner Volkszahl anzupassen." (55) Als ersten politischen Schritt strebt Hitler daher die "Reichseinigung" an, um dann zur "Raumpolitik" übergehen zu können. Wohin diese führen soll, ist bei ihm von Anfang an klar: "Das einzige Gebiet, das in Europa für eine solche Bodenpolitik in Frage kam, war (...) Rußland." (102) Die Auswirkungen des "Versailler Vertrages", die interessenpolitischen Ansprüche anderer Europäischer Staaten oder Übergriffe auf Deutsche auf ehemals deutschen Gebieten mögen daher wesentliche Katalysatoren bei der Machtergreifung Hitlers gewesen sein, die innere Dynamik seiner Ideologie wird hierdurch aber nicht berührt. Stellt man jedoch wie Hinz auch die Frage nach „Schuld“ und "Niederlage", kommt es auf eben diesen wesentlichen Unterschied an und in der mangelnden Berücksichtigung dieser Tatsache liegt eine der wenigen Schwächen des Buches. Bei der Beurteilung eines Verbrechers zählen eben die Umstände, die seine Tat begünstigt haben mögen, weniger als die eigentlich verbrecherische Absicht. Nicht ohne Grund ist daher auch bereits der Versuch eines Verbrechens strafbar und nicht erst das "gelungene" Verbrechen. So, wie man Marxisten also mit Recht vorwerfen kann, Politik auf materielle Interessensauseinandersetzungen zu reduzieren, muss man Hinz wegen seiner Reduzierung des Politischen auf das - keineswegs nur materiell definierte - Interesse kritisieren. Universalistische Ansprüche scheinen für ihn in ganz postmoderner Manier nichts anderes als moralisch verklärte und daher verlogen bemäntelte Interessenspositionen. Demgegenüber hält er es offenbar für anständiger, wenigstens die eigenen Interessen öffentlich klar zu artikulieren: "Wenn deutsche Politiker und Publizisten (...) auf moralische Begründungen verzichteten, wurde ihnen das nicht als Aufrichtigkeit gutgeschrieben, sondern bestätigte bloß (...) das Unrecht Deutschlands." (90) Für ihn bedürfen die "unaufhebbaren Eigenrechte" der Deutschen daher "keiner Begründung" (7). Indes ist genau dieser Verzicht eines Intellektuellen, der selbst eine "Trennlinie zwischen Nationalgefühl und Nationalismus zieht und letzteren für einen Anachronismus hält" (11), auf jedwede Begründung das Einfallstor des Adolf Hitler. Würde dieser sich nicht ebenso widerspruchsfrei auf angebliche „deutsche Interessen“ berufen, um sich – nach den Legitimationsgründen seiner Politik und seines Denkens befragt – zu rechtfertigen? Der Verzicht auf jedwede Form von Universalismus begründet einen politischen Raum, in dem die jeweils historisch Durchsetzungsfähigen das kollektive "Interesse" beliebig definieren können, weil „berechtigte“ von „unberechtigten“ Interessen schlicht nicht mehr zu unterscheiden sind. Adolf Hitler hat von dieser intellektuellen Brüchigkeit des modernen Zeitgeistes ausgiebig Gebrauch gemacht - freilich in seinem Sinne. Angesichts dieser theoretischen Leerstelle nimmt es daher auch nicht Wunder, dass Hinz’ Buch nicht mit einem Kapitel über das notwendige innere Gefüge eines selbstbewussten "deutschen" Staates endet, der seinen Bürgern jenseits des "Kompensationscharakter(s) des Wohlstandsversprechens" (38) eine "Staatsethik" (175) vermittelt - eine Aufgabe, die von links gesehen zugegebenermaßen derzeit auch kaum jemand schultern könnte -, sondern mit einem Kapitel über die "Ohnmachtspolitik". Allerdings sieht Hinz von dieser Ohnmacht letztlich nicht nur Deutschland, sondern im Grunde ganz Europa befallen, das seine „Selbstinteressen“ (11) gegenüber außereuropäischen Kulturen nicht angemessen verteidige. Und als ob er selbst vom Niederlagen-Denken affiziert wäre, wendet er sich fast flehentlich an die Einsichtsfähigkeit der europäischen Nachbarstaaten: „Nun, da die Gewichte sich verschoben haben und die Selbstbehauptung der europäischen Staaten nur gemeinsam möglich ist, sollte ein seelisch krankes Herzland nicht länger im Interesse der Nachbarn liegen.“ (11) Es gibt indes keinen Grund, die intellektuell dürftige und in einem differenzierenden Sinne falsche Alleinschuldthese ausschließlich in einer allgemeinen Erwägung über interessenpolitische Auseinandersetzungen aufgehen zu lassen. Selbst für die Kommunisten war es seinerzeit eine Selbstverständlichkeit, dass die Bedingungen des "Versailler Vertrages" sowie das Agieren der deutschen Kommunisten zur Machtergreifung Hitlers beigetragen haben. Auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale in Moskau schrieb Georgi Dimitroff in seiner berühmten Rede "Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus" im Jahr 1935 den deutschen Kommunisten ins Stammbuch: "In Deutschland haben unsere Genossen lange Zeit das verletzte Nationalgefühl und die Empörung der Massen gegen den Versailler Friedensvertrag nicht genügend berücksichtigt." (Dimitroff 1960: 102) Die Tatsache, dass andere historische Akteure ebenfalls am Zustandekommen des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs beteiligt waren, mindert indes die Verantwortung und auch Schuld „der Deutschen" in keiner Hinsicht. Ganz ähnlich sah es übrigens auch Keynes im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg: Trotz Berücksichtigung der allgemeinen befördernden Umstände war er der "Ansicht, dass Deutschland eine besondere und eigenartige Verantwortung für den Krieg zu tragen hat für dessen umfassenden und vernichtenden Charakter und für dessen schließliche Entwicklung zu einem Kampf ohne Gnade um Sieg oder Niederlage.“ (Keynes 1921: 6) Die entscheidende Frage ist daher auch nicht die nach der Alleinschuld, sondern danach, was diese - wenn es sie denn tatsächlich gegeben hätte - uns Nachgeborenen eigentlich noch bedeuten könnte. Max Horkheimer schrieb am 10. Juni 1963 an den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Eugen Gerstenmaier: "Schuld betrifft die Einzelnen und seien es noch so viele; alles andere ist verhängnisvoller Mythos." (Horkheimer 1998: 170)
Literatur: Bloch, Ernst (1985a): Verbrechen und Sühne, in: ders.: Kampf, nicht Krieg. Politische Schriften 1917-1919, hrsg. von Martin Korol, Frankfurt am Main, S. 427-430
- ders. (1985b): Das verspätete Deutschland und seine mögliche Regeneration, in: ebd., S. 433-435
Dimitroff, Giorgi (1960): Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus, in: Pieck - Dimitroff - Togliatti. Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für Volksfront gegen Krieg und Faschismus, Berlin, S. 85-178 Hitler, Adolf (1961): Hitlers zweites Buch, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, Stuttgart
Hobsbawm, Eric (1997): Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, 7. Auflage, München Horkheimer, Max (1998): Brief an Eugen Gerstenmaier vom 10. Juni 1963, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995. Band II, Hamburg, S. 169-171
Keynes, John Maynard (1921): Der Friedensvertrag von Versailles, Berlin Lau, Jörg (1998): Ein fast perfekter Schmerz. Die Affäre um Binjamin Wilkomirski zieht weite Kreise: Darf man Erinnerungen an den Holocaust erfinden?, http://www.zeit.de/1998/39/199839.wilkomirski_.xml psychologie-niederlageThorsten Hinz
Die Psychologie der Niederlage
Über die deutsche Mentalität
Junge Freiheit, Leinen, 208 Seiten
ISBN: 978-3-929886-34-4
Preis: 19,80
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