Chemnitz

Schlecht verheilt

Wo steht Chemnitz fünf Jahre nach den schweren rechtsextremen Übergriffen? In einem Gastbeitrag schreibt die Chemnitzer SPD-Abgeordnete Hanka Kliese über kaum erfolgte Aufarbeitung, Alltagsdiskriminierung und was nötig wäre, damit die Stadt den Titel Kulturhauptstadt im Jahr 2025 wirklich verdient.

Mittwoch, 13. September 2023
Hanka Kliese
Das Karl-Marx-Monument in Chemnitz ist Ausgangspunkt zahlreicher Demonstrationen - auch 2018.
Das Karl-Marx-Monument in Chemnitz ist Ausgangspunkt zahlreicher Demonstrationen - auch 2018.

Das Chemnitzer Understatement kann auf Dauer anstrengend wirken. Es verläuft ein schmaler Grat zwischen Bescheidenheit und dem, was man in dieser Region als „Rumningeln“ bezeichnet. Mit dem Slogan „C the Unseen“ hat die Stadt ihr liebevoll gepflegtes Loser-Image kultiviert und zum Erfolg geführt.

Dabei war Chemnitz vor fünf Jahren alles andere als ungesehen. 2. September 2023: Sonnenschein, Seifenblasen und Polizei am „Nischel“. Heute dient der vielseitig strapazierte Bronzekopf als Kulisse für eine Demonstration, die an den Spätsommer 2018 erinnern soll, in dem Horden von Neonazis ungebremst an ihm vorbei marschierten. Etwa 600 Menschen sind gekommen, um an etwas zu erinnern, woran kaum jemand gern erinnert werden will. Vorrangig junge Menschen und einige Vertreter:innen von Linken, Grünen und SPD sind gekommen. Sie folgen dem Aufruf „Kein Vergeben. Kein Vergessen.“ und stellen sich einem denkbar unbequemen Andenken.

„Nie wieder“?

„Eine Chance für Chemnitz“ sollte aus dem düsteren Kapitel entstehen, so wünschte es sich auch die damalige Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig. Und mit dem Gewinn des Titels „Kulturhauptstadt 2025“ deutete im Oktober 2020 deutete vieles darauf hin, dass diese genutzt wird. Das Unmögliche schien auf einmal möglich. Chemnitz, das selbsternannte Aschenputtel, war endlich in seiner wahren Schönheit erkannt worden. Inzwischen ist der Traum verblüht. Es darf wieder „geningelt“ werden – und das nicht zu knapp. Die „Macher“ („Macherinnen“ sind es hier seltener) der Kulturhauptstadt sehen sich mit überbordenden Erwartungshaltungen konfrontiert und müssen einsehen, dass sie vor allem eines nicht können: Wunden heilen. So scheint dieser Tage im medialen Erinnerungsrauschen vor allem eine Einschätzung plausibel, die auch das Bündnis als Schlusssatz für seinen Demo-Aufruf gewählt hat: „Es kann wieder passieren.“ Ist das noch Defätismus oder schon Kapitulation?

Zunächst ist es eine völlig realistische Einschätzung der Situation. Die Hooligan-Szene, welche 2018 die Erstmobilisierung verantwortete, wurde nicht geschwächt. Im Gegenteil. Schon wenige Monate, nachdem man sich in Chemnitz schwor, dass manche Dinge „nie wieder“ passieren dürfen, wurde die Szene durch den von der Stadt gut subventionierten Chemnitzer FC geadelt. Über offizielle Kanäle des Vereins huldigte man im Stadion den Gründer der „HooNaRa“ – Hooligans, Nazis, Rassisten – Thomas Haller. Seine Organisation besaß in den Neunzigern großen Einfluss.

Beispiel Dortmund: Härtere Gangart gegen Neonazis

Mitglieder der „HooNaRa“ waren in einen Mordfall verwickelt, der in Sachsen erst viele Jahre später als politisch motiviert anerkannt wurde: 1999 wird der 17-jährige Patrick Thürmer auf dem Heimweg von einem Punkfestival schwer verletzt und erliegt später seinene schweren Kopfverletzungen. Der bis dahin europaweit einmalige Vorgang einer öffentlichen Machtdemonstration von Hooligans im Stadion brachte in der Szene Ruhm und Aufmerksamkeit. Die Bilder aus dem Stadion liefen über alle Kanäle – Chemnitz war einmal mehr nicht „the Unseen“.

Die bereits damals florierende Neonazi-Achse Chemnitz-Dortmund hat sich unterdessen zur Einbahnstraße entwickelt. Bekannte, teils vorbestrafte Importe aus dem rechtsextremen Spektrum, stärken heute die regionalen Strukturen, welche auch im Stadion des Chemnitzer FC Präsenz zeigen. In Dortmund haben sowohl Polizeikräfte als auch der Fußballverein längst eine härtere Gangart im Umgang mit Rechtsextremen eingeschlagen, mit der in Chemnitz aktuell noch nicht zu rechnen ist.

Ein Loblied auf das Unpolitische

Während sich der Dortmunder Neonazi Michael Brück montäglich mit Chemnitzer Querdenker:innen in freundlich-wohlwollender Atmosphäre tummelt, bei denen auch mal ein Polizist einen Ordner duzt und umgekehrt, wurde bei einer Demonstration zum Andenken an Marwa El-Sherbini ein Transparent mit der Aufschrift „Björn Höcke ist ein Nazi“ vor dem Chemnitzer Rathaus konfisziert und gegen die Träger:innen ermittelt. Dass diese Aussage bereits zuvor von mehreren Gerichten deutschlandweit als zulässig beurteilt wurde, hatte sich offenbar noch nicht bis Chemnitz herumgesprochen.

Schwerer als der Ballast rechtsextremer Netzwerke wiegt in der Aufarbeitung der Ereignisse von 2018 die unveränderte Grundhaltung aus Teilen der Stadtgesellschaft und Verwaltung. In Chemnitz singt man gern ein Loblied auf das Unpolitische. Ob aus mangelnder Diskursfähigkeit oder starkem Harmoniebedürfnis – unpolitisch sein gilt als erstrebenswert. Erst vor wenigen Wochen betonte ein namhafter Sportfunktionär der Stadt, man müsse eben die Politik aus dem Fußball raushalten, sie habe da nichts zu suchen.

Alltagsdiskriminierung

Was erstmal zustimmungsfähig klingt, offenbart ein typisches Problem: das Dulden von Alltagsdiskriminierung. Unpolitisch sein heißt eben auch, im Rahmen der Konfliktvermeidung über Ungerechtigkeiten zu schweigen. Und in dieser Behaglichkeit wächst, was eigentlich vermieden werden sollte. So folgt Chemnitz immer wieder dem Beispiel der antiken Tragödie, indem es das Unheil herauf beschwört im Versuch, es abzuwenden. Auch Jahre nach 2018 tut sich die Stadt immer noch schwer, öffentlich zu bekennen, welche Verbindungen hier zum NSU vorlagen oder rechtsextreme Übergriffe zu benennen. Als gäbe es noch ein Image, das damit beschädigt werden könnte.

„Ich trage Dich, wie eine Wunde auf meiner Stirn, die sich nicht schließt“ – an diese Zeilen des Dichters Gottfried Benns an seine Mutter denke ich oft, wenn ich an den Sommer vor fünf Jahren erinnert werde. Ich denke an das tägliche Brummen der Helikopter über meiner Wohnung, an die bedrückende Katerstimmung nach dem „Wir-sind-mehr“-Konzert. Als die hippen Großstädter wieder in ihre hippen Großstädte fuhren, beseelt von dem guten Gefühl, „etwas gegen rechts“ getan zu haben.

„Wir sind mehr“-Momente

Ich möchte nicht zynisch sein, ich bin dankbar für das großartige Engagement der Künstler:innen, die uns an jenem Abend so viel Kraft geschenkt haben. Ich bin glücklich, in einer Stadt zu leben, in der die Band „Kraftklub“ zuhause ist und nicht müde wird, daran zu erinnern, wie es sich anfühlt, wenn Rechtsextremismus mehr Mainstream ist als Antifa.

Ich bin überzeugt, dass es weder für ein Gelingen der Kulturhauptstadt noch für eine gute Aufarbeitung von 2018, was untrennbar verknüpft ist, zu spät ist. Wir brauchen viele kleine „Wir sind mehr“-Momente aus eigener Kraft und einen Kulturwandel im Umgang mit rechtsextremen Bedrohungen. „The Unseen“ wird 2025 gesehen. Als was, das liegt noch in unserer Hand.

Zuerst erschienen bei sächsische.de

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