„Rossija 88“ – Hitlerverehrung in Russland

Wie konnte es dazu kommen, dass ausgerechnet in Russland, wo Adolf Hitler Tod und Verderben über viele Millionen Menschen brachte, rechtsextreme Vereinigungen alljährlich am 20. April den Geburtstag des Nazi-Diktators „feiern“? An welchen Werten und Idealen orientieren sich die Erben der im Zeitraum von 1941 bis 1945 an der Front gegen den deutschen Feind kämpfenden Rotarmisten? Worin liegen die Ursachen für die Entfaltung nationalistischer und faschistischer Weltanschauungsmodelle der in solch einem multiethnisch besiedelten Staat wie der Sowjetunion oder der Russländischen Föderation sozialisierten Russinnen und Russen?

Samstag, 25. Dezember 2010
Ludmila Lutz-Auras
Eduard, ein junger Mann um die 20, nimmt in einem stillen Moskauer Stadtviertel eine Videokamera in Betrieb, um den Auftritt von einem Dutzend kahlköpfiger, den rechten Arm ausstreckender und die Parole „Heil Hitler“ rufender Skinheads zu filmen. Der Amateurregisseur, wegen seines jüdischen Vaters als „Abraham“ gehänselt, darf dennoch bei der Neonazi-Gruppe „Rossija 88“ mitwirken – die 8 steht dabei für den achten Buchstaben im deutschen Alphabet, davon abgeleitet versinnbildlicht die 88 den Gruß „Heil Hitler“. Als Kampfsportvereinigung getarnt treffen sich die Mitglieder in einem zur Turnhalle umgestalteten Keller, wo sie ihre Überfälle auf Ausländer, den Ablauf nächster Versammlungen sowie den Inhalt kleiner Propagandaclips fürs Internet planen. Am Rand der eigentlichen Gruppenaktivitäten fixiert Eduard die Verbindung von Gesellschaft und faschistischem Untergrund – etwa in der Person des Milizionärs, der die Jugendlichen dazu anspornt, den kaukasischen Markt zu überfallen: „Ist doch für euch ein Vergnügen und mir eine Hilfe“.1)

Bei den in Homevideo-Technik gehaltenen Aufnahmen handelt es sich um den als Dokumentation im Jahr 2008 produzierten Spielfilm „Rossija 88“, in dem der Autor Pavel Bardin die Aufmerksamkeit auf das sowohl in Russland als auch im Ausland nahezu völlig ignorierte Phänomen lenkt. Die Allgegenwärtigkeit des russländischen Rechtsextremismus bezeugt der reibungslose Ablauf der Requisitenbeschaffung: Die mit nationalistischen Symbolen verzierte Bekleidung bestellte Bardin auf einem legalen Weg bei den einheimischen Online-Anbietern, die rechtsextreme Musik erwarb er auf der „Gorbuška“, einem ordnungsgemäßen, aufgrund der dort überdurchschnittlich günstig angebotenen Produkte sogar als Touristenattraktion fungierenden Elektrogroßhandelsplatz in Moskau. Die Texte, die der mit einer Sturmhaube maskierte Hauptdarsteller Blade vor der Kamera deklamiert, stammen aus den ultrarechten Internet-Foren, und die im Film thematisierten Morde, Pogrome und terroristischen Anschläge basieren auf Polizeiberichten aus Vladivostok, St. Petersburg und Voronež.2) Seit seinem Erscheinen provozierte der Film „Rossija 88“ Skandale: Auf dem „Spirit of Fire Festival“ im sibirischen Chanty-Mansijsk im März 2009 sollte er die Hauptauszeichnung bekommen, welche das Fachgremium kurzfristig unbegründet durch den „Expertenpreis der Jury“ sowie den „Preis der Vereinigung der Filmhistoriker und -kritiker“ ersetzte. Während der Streifen auf Festivals in Berlin, Montréal und Helsinki lief, blieb die staatliche Vertriebslizenz in Russland zunächst aus. Nach der offiziellen Ausstrahlungsbewilligung beendete jedoch die Sondereinheit der Miliz OMON kommentarlos die erste Aufführung in Moskau, der einige Hunderte Zuschauer beiwohnten.3)

Pavel Bardins Werk reflektiert nicht lediglich seine persönlichen Fantasien und Vorstellungen, sondern beruht auf wahren Begebenheiten des russländischen Alltags. Experten schätzten im Jahr 2009 die Anzahl russischer Rechtsextremisten auf rund 70.000, die meist einer der etwa 90 national-patriotischen Bewegungen oder Partei angehören. Allein in Moskau agieren circa 5 000, in St. Petersburg bis zu 3 000, in Nižnij Novgorod über 1.500 radikale Nationalisten, Rassisten und Faschisten, die sich in Organisationen wie „Weiße Bulldoggen“, „Das Russische Ziel“, „Himmlische Arier“, „Es lebe die SS-Swastika“, „Schulze 88“, oder „Legion Werwolf“ engagieren.4)

Fußnoten:


1) Bardin, Pavel: Rossija 88. DVD. Spieldauer 104 Minuten. Moskau 2009.

2) Pavel Bardin: Regisseur des Films „Rossija 88“. Telefoninterview am 23.06.2009.

3) Plachov, Andrej: Kino ne pro tech. [Ein Film nicht über die Richtigen], in: Vlast' 27.04.2009.

4) Vgl. hierzu Koževnikova, Galina: Pod znakom politi?eskogo terrora. Radikal'nyj nacionalizm v Rossii i protivodejsvije jemu v 2009 godu. [Unter dem Zeichen des politischen Terrors. Radikaler Nationalismus in Russland und dessen Bekämpfung im Jahr 2009]. Moskva 2010; ?arnyj, Semen: Ksenofobija i neterpimost' v sovremennoj Rossii i zarubežom. [Xenophobie und Nichtduldung im heutigen Russland und im Ausland]. Moskva 2008.
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