„Atomwaffen Division“
Rechter Terror aus dem Kinderzimmer
Marvin E. kandidierte für die CDU und baute Bomben. Er plante Mordanschläge und wollte eine Zelle der neonazistischen Terrororganisation „Atomwaffen Division“ aufbauen: Jetzt wurde der 21-Jährige aus dem nordhessischen Spangenberg zu einer Jugendstrafe von knapp vier Jahren verurteilt.
Es hätte Marvin E. stutzig machen können, dass sein Chatpartner sogar jedes Komma richtig setzte. Bei den Usern, die sich wie er in den Telegram-Kanälen der neonazistischen „Atomwaffen Division“ (AWD) tummelten, mit Alias-Namen wie „Adolf Hitzler“ oder „Neuer Reinhard Heydrich“, schien die Begeisterung fürs Deutschtum ansonsten bei der Rechtschreibung zu enden. Der Mann, der sich „Kucina_Futurista“ nannte, dagegen textete druckreif. Marvin E. aber schöpfte keinen Verdacht. Freimütig unterhielt er sich mit seinem Gegenüber über das rechte Terrornetzwerk, fabulierte von einer achtköpfigen Zelle unter seiner Führung – und offenbarte dabei auch seine Handynummer. Wenige Tage später stand im nordhessischen Spangenberg, wo der heute 21-Jährige noch bei seinen Eltern lebte, die Polizei vor der Tür. Denn hinter „Kucina_Futurista“ steckte ein Agent des Bundesamts für Verfassungsschutz.
Am Montag sitzt Marvin E. nach 40 Verhandlungstagen zum letzten Mal im Oberlandesgericht Frankfurt auf der Anklagebank, ein kleiner, noch etwas pausbäckiger junger Mann mit stoppeligem Haar und hängenden Schultern, der eher wie ein ertappter Schuljunge wirkt als wie der Rechtsterrorist, der er so gerne sein wollte. Wegen versuchter rädelsführerschaftlicher Gründung einer terroristischen Vereinigung, der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sowie wegen Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz verurteilt ihn der Staatsschutzsenat zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten.
Urteil akzeptiert
„Der Angeklagte war fest entschlossen, einen tödlichen Anschlag im Sinne der Ideologie der AWD zu begehen“, sagt Senatsvorsitzender Christoph Koller. Die Tat sei aber „noch einige Umsetzungsschritte entfernt“ gewesen, für ein konkretes Ziel und einen konkreten Termin habe sich Marvin E. noch nicht entschieden. Mit dem Urteil liegt das Gericht näher an der Verteidigung, die dreieinhalb Jahre für hinreichend befunden hatte, als an den fünf Jahren Jugendstrafe, die die Bundesanwaltschaft verlangt hatte. Der Tischler-Auszubildende, der ein halbes Jahr vor seiner Festnahme im September 2021 als parteiloser Kommunalwahlkandidat für die CDU seines Heimatorts angetreten war, nimmt das Urteil noch im Gerichtssaal an.
In seinem Kinderzimmer war die Polizei auf eine Bombenwerkstatt gestoßen. In einem Aluminiumkoffer lagen zwölf selbstgebastelte Sprengsätze, zum Teil mit Stahlkugeln ummantelt, die sich bei einer Explosion in tödliche Geschosse hätten verwandeln können, dazu eine Kamera und ein möglicher Fernzünder. Und Abzeichen mit dem Radioaktivitätslogo der „Atomwaffen Division“, die der auch in Handarbeiten bemerkenswert versierte Angeklagte selbst gestickt hatte. Ja, gab Marvin E. vor Gericht zu, diese Bomben seien durchaus dafür gedacht gewesen, gegen Menschen eingesetzt zu werden. Aber noch nicht jetzt, sondern erst irgendwann, in dem „Rassen- und Bürgerkrieg“, den die AWD herbeiführen will, um eine neo-nationalsozialistische Gesellschaftsordnung zu schaffen.
„Eine neue rechte Gesellschaft“ aufbauen
In den USA, wo sie 2015 gegründet wurde, hat sich die „Atomwaffen Division“ offiziell aufgelöst, nachdem ihren Mitgliedern mehrere Morde zur Last gelegt wurden. Weltweit aber gibt es nach wie vor militante Neonazis, die sich zu der Terrortruppe bekennen, tauchen immer wieder Gruppierungen auf, die das Label der AWD für sich beanspruchen. Auch in Deutschland. Erst vor gut einem Jahr wurden bundesweit die Wohnungen von 50 Rechtsextremen durchsucht, die zur AWD oder ihrem Umfeld gehören sollen.
Die „Atomwaffen Division“ propagiert willkürliche Anschläge auf Schwarze, auf Jüd*innen, auf Muslim*innen, aber auch auf Politiker*innen oder auf kritische Infrastruktur, begangen von Einzelpersonen oder kleinen Zellen gemäß der Strategie des „führerlosen Widerstands“. Als „militanter Akzelerationismus“ wird das bezeichnet. Marvin E., das hat sich im Prozess immer wieder gezeigt, ist intellektuell eher unbedarft, theoretisches Denken nicht seine größte Stärke. Doch was die AWD will, die für ihn in den Monaten vor seiner Festnahme „fast das einzigste Thema“ war, wie er sagte, vermag er ziemlich genau und vergleichsweise wortgewandt zu erklären. „Die Idee ist, den Zerfall der Gesellschaft zu beschleunigen, um eine neue rechte Gesellschaft aufzubauen“, referierte er. „Soweit ich weiß, angelehnt an das Dritte Reich.“
Teilnahme an Aussteigerprogramm
Seine Fantasie von der eigenen AWD-Zelle blieb allerdings eben das: eine Fantasie. Marvin E. war kein organisierter Neonazi, nicht eingebunden in die regionale Szene. Doch das machte ihn nicht minder gefährlich. Geradezu idealtypisch steht er für den neuen Typus des rechten Kinderzimmerterroristen – wie die Attentäter von Halle und Hanau, wie der junge Mann aus der Oberpfalz, der sich wie Marvin E. in Chats aus dem Umfeld der „Atomwaffen Division“ herumtrieb und 2020 verurteilt wurde, weil er einen Anschlag auf eine Moschee oder Synagoge begehen wollte. Ihr Resonanzraum ist das Internet, in ihrem Weltbild gehen soziale Defizite und persönliche Enttäuschungen mit antisemitischen und rassistischen Ressentiments eine mörderische Liaison ein.
Marvin E. hat beteuert, sich von diesem Denken lösen zu wollen. Kurz nach Prozessbeginn ließ er sich ins hessische Aussteigerprogramm „Ikarus“ aufnehmen und hat bei ausführlichen Befragungen durch den Staatsschutzsenat „die Hosen heruntergelassen“, wie es seine Verteidigerin Christiane Köhler ausdrückte. Er erzählte, wie er sich reihenweise Videos von Terroranschlägen und Amokläufen ansah, die er über die Propagandakanäle der AWD bekommen hatte, wie er dabei über die Opfer lachte und sich mit den Tätern identifizierte. „Die Opfer sind gleichzeitig auch Täter“, sagte er. „Sie müssen den Täter ja so weit getrieben haben.“ So wie ihn, der sich nirgends willkommen und anerkannt fühlte. Der keine echten Freundschaften hatte, dessen Sexualleben sich offensichtlich auf den Konsum von Kinderpornos beschränkte, der auch in seiner Familie ausgegrenzt wurde. „Oberflächlich war das Elternhaus von christlicher Ethik geprägt“, sagt Richter Koller. „Tatsächlich prägten seelische und physische Gewalt die Jugend des Angeklagten.“
„Das System zu Fall bringen“
Marvin E. malte sich Anschläge und Amokläufe aus, googelte dafür nach einem Grundriss des Bundestags und nach Schulen – nicht nur im nahegelegenen Kassel, sondern ausgerechnet auch im fernen Essen, wo einige Monate später der Amoklauf eines ebenfalls rechtsextremen Gymnasiasten in letzter Minute vereitelt wurde. Ein bemerkenswerter Zufall, dem im Prozess allerdings nicht weiter nachgegangen wurde. Marvin E. träumte von Rache für erlittene Demütigungen, wollte aber zugleich ein „politisches Zeichen“ setzen, wie er sagte. Er habe „das System zu Fall bringen“ wollen und „Feinde“ töten wollen. „Alles, was so Juden, Schwarze, Ausländer sind. Vielleicht auch aus dem linken Spektrum. Wer dann noch vor die Flinte läuft, hat Pech gehabt.“
In einem Pamphlet, dem er den sonderbaren Titel „Operation RanzKacke“ gab und das wegen seiner ausgeprägten Lese- und Rechtschreibschwäche zum Teil fast unverständlich daherkommt, forderte er, dass man jüdische und migrantische Menschen „aus dem Lebensraum der weißen Rasse jagen“ und „dezimieren“ müsse. Also: umbringen, wie er klarstellte. Er habe das zwar nur geschrieben, um einen Online-Bekannten zu „verarschen“, sagte Marvin E. Aber: So habe er das damals auch tatsächlich gesehen.
Gut gelaunt zum Prozess
Der Psychiater Hartmut Berger bescheinigte Marvin E. „narzisstische, paranoide und dissoziale Züge“, eine „erhebliche Selbstwertproblematik“, einen Mangel an Empathie. „Er ist isoliert, sehr frustriert, sehr wütend, sucht aber Anhang“, sagte Berger. Die Ideologie der „Atomwaffen Division“ habe es ihm da ermöglicht, sich trotzdem über andere zu erheben. „Die AWD passt wie ein Schlüssel ins Schloss zu seiner emotionalen Befindlichkeit.“ Das Gericht geht in seinem Urteil noch einen Schritt weiter: Der Angeklagte sei einem „fremdgesteuerten, dynamischen Prozess im Internet“ erlegen. Ein Opfer des „memetic warfare“, des Online-Propagandakriegs der AWD. Wie sehr der junge Mann nach Aufmerksamkeit dürste, sei im Prozess unübersehbar gewesen, befindet Koller. „Ich habe in 20-jähriger Richtertätigkeit noch nie einen Angeklagten erlebt, der so fröhlich und gutgelaunt herkam.“ Die Verhandlung sei „eine Art Therapiesitzung“ gewesen.
Den Koffer mit seinen Sprengsätzen hatte Marvin E. mit dem Zahlencode „1 23 4 4 8“ gesichert, übersetzt in Buchstaben: AWDDH, für „Atomwaffen Division Deutschland Hessen“. So nannte er den Ableger der rechten Untergrundarmee, den er ins Leben rufen wollte. Aber auch wenn er seine Rolle als hessischer Terrorchef in Chats mit Gleichgesinnten aus aller Welt fantastisch ausmalte, blieb er in Wahrheit – wie auch sonst in seinem Leben – allein. Nur ein ehemaliger Klassenkamerad zeigte genügend Interesse, dass ihn der Angeklagte schließlich auf die braune Sache einschwören wollte. „Willst du der AWD treu sein?“, fragte er ihn im Chat. Eine Antwort bekam er nicht.
Abwertend gegenüber Minderheiten
So leicht Marvin E. in die Falle des virtuellen Verfassungsschutzagenten tappte, so naiv agierte er auch sonst. Für seine „AWDD Hessen“ warb er offen bei Instagram, das Material für seine Bomben bestellte er schlicht bei Amazon. Ebenso wie schwarz-weiß-rote Reichsflaggen, die er gleich im Dreierpack orderte. „Um Porto zu sparen“, wie er erklärte. Ohne sich Gedanken über die Spuren zu machen, die das auf seinem Computer hinterlassen würde, googelte er nach Artikeln und Videos über die „Atomwaffen Division“, nach Hakenkreuzfahnen oder dem Sturmgewehr G36, suchte bei YouTube nach der Goebbels-Rede vom „totalen Krieg“. Konspirativ? „Das sagt mir jetzt nichts“, bekannte er vor Gericht.
Seinem Umfeld fiel an dem jungen Mann, der fast nur in Flecktarn und Springerstiefeln auftrat, nichts auf, was sie für bedenklich gehalten hätten. Seine Eltern interessierten sich ohnehin so wenig für ihn, dass der Rechtspsychologe Andreas Thiele von „emotionaler Verwahrlosung“ sprach. Sein Ausbilder und seine Lehrer an der Berufsschule fanden ihn freundlich und unauffällig – „und immer pünktlich“, wie ein Pädagoge hervorhob. Und auch die meisten seiner Mitschüler, die als Zeugen vor Gericht aussagten, wollten nichts von der Geisteshaltung des Angeklagten geahnt haben. Nicht einmal dann, wenn er ihnen AWD-Propagandavideos schickte.
Politische Äußerungen? „Nur dass er bei der CDU kandidiert und dass das Idioten sind“, sagte ein Berufsschüler, der mit Marvin E. Dutzende Hitler-Bildchen als Whatsapp-Sticker ausgetauscht hatte. Lediglich einer der Tischler-Auszubildenden schien genauer hingehört zu haben: Immer wieder habe sich der Angeklagte antisemitisch, rassistisch und sexistisch geäußert, auch zusammen mit anderen Mitschüler*innen, berichtete der 18-Jährige. „Sein ganzes Auftreten war davon bestimmt, dass er offen abwertend war gegenüber Minderheiten. Das war Teil seiner Identität.“
Den CDU-Stadtrat, der Marvin E. zu Sitzungen der Spangenberger Rathausfraktion mitnahm und schließlich auch zur Kandidatur bewegte, nannte der Angeklagte „Mein Führer“ und entbot ihm gelegentlich auch den Hitlergruß. Doch auch der Politiker sah offenbar keinen Grund, sich Sorgen um seinen Politzögling zu machen. Vielleicht weil Marvin E., wie er selbst sagte, mit den politischen Positionen der lokalen CDU „grundsätzlich schon“ einverstanden gewesen sein will. Zumal auch der eine oder andere rechte Spruch geklopft worden sei. Am Ende aber habe er sich bei der „Atomwaffen Division“ wohler gefühlt, sagte der Angeklagte. Das „familiäre Gefühl“ sei da einfach stärker gewesen.