Psychoterror und Gewalt

Neonazis bedrohen und schikanieren Menschen, die sich gegen Rechts engagieren – die Opfer fühlen sich häufig von der Politik alleingelassen.

Freitag, 03. Juni 2011
Lilian Muscutt / Tomas Sager

155 Fälle rechter Gewalt zählte das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt 2010. Im Jahr zuvor waren es 173. In absoluten Zahlen war das der höchste Wert aller Bundesländer. Gemessen an der Einwohnerzahl rangierte NRW zwar nur auf Platz 12. Aber: Fast jeden zweiten Tag greifen Neonazis Bürger an, die sie als Gegner ansehen oder an deren bloßer Existenz sie sich stören – Menschen, die sich gegen Rechts stark machen, Migranten, Homosexuelle, Obdachlose. Rechte Gewalt ist beileibe kein Ost-Phänomen. Inzwischen reagiert auch die Politik in Düsseldorf: Im Mitte Mai beschlossenen Landeshaushalt wurden erstmals 300.000 Euro für zwei Opferberatungsstellen im einwohnerstärksten Bundesland bereitgestellt.

Die Opferberater werden es nicht nur mit direkter Gewalt gegen Personen zu tun haben. Häufiger agieren Neonazis „zurückhaltender“: mit Bedrohungen, Belästigungen und Schikanen. Zum Beispiel in Dortmund, wo die Familie Claus * wohnt. Für Silvia Claus gibt es in ihrem Leben ein Vorher und ein Nachher. Vorher: Das war ein völlig normales Leben in der Ruhrgebietsstadt. Nachher: Das ist jene Zeit, seit Neonazis ihren Sohn auf einer Internetseite, auf der sie tatsächliche oder vermeintliche Gegner „outeten“, an den Pranger stellten. Er hatte einen jungen Neonazi dabei ertappt, wie er Szene-Aufkleber in der Schule an die Wände klebte. Der Neonazi musste die Schule verlassen, für Familie Claus begann der Psychoterror. Pakete wurden auf ihren Namen bestellt, Zeitungs-Abos abgeschlossen, ihr Auto beschädigt. Ein Anrufer kündigte an, sie würden vergast werden und „bald alle in den Ofen kommen“. Ihr Sohn kann sich in der Stadt nicht mehr sicher fühlen, wurde von Neonazis überfallen, erlebte Todesangst.

Von vermummten Personen eingekesselt

„Wenn man das Leben als Haus sehen würde, dann wäre dieses Haus bis in die Grundfesten erschüttert“, sagt Silvia Claus nach einem Jahr Neonazi-Terror. Medien schaltete sie ein, Politiker, die städtische Koordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus, den Weißen Ring. Regelmäßig erstattete sie Anzeige. Wirklich helfen konnte letztlich niemand. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich für uns niemand interessiert“, klagt sie. „Wie kann das in einem Rechtsstaat passieren?“

40 Kilometer weiter, in Wuppertal, lebte bis vor einem halben Jahr die Familie Welters. Im Herbst sind sie weggezogen. Sylvia Welters (36), ihr Lebensgefährte (37) und die drei Kinder (5, 11, 13 Jahre) hatten die Bedrohungen der Neonazis nicht mehr ausgehalten. Im Rückzug aus ihrer Heimatstadt Wuppertal sahen sie die einzige Lösung. Die gelernte Krankenpflegerin und ihr Lebensgefährte hatten neonazistische Aufkleber entfernt, die im Wuppertaler Stadtteil Vohwinkel in großen Mengen an Laternenmasten und Haltestellen klebten – außerdem ein Transparent, das an einer Brücke hing und zur Teilnahme an einem Aufmarsch aufrief. „Zwei Tage später wurde mein Lebensgefährte am Bahnhof von fünf oder sechs vermummten Personen eingekesselt. Sie machten Fotos von ihm. Sie sagten, diesmal würden sie ihm nichts tun, beim nächsten Mal würde er anders aussehen.“

Monatelanger Terror gegen Familie

Seit jenem Vorfall rechnete die Wuppertalerin „jeden Tag damit, dass sie meinen Lebensgefährten krankenhausreif zusammenschlagen“. Denn bei der Drohung am Bahnhof blieb es nicht. Eine Gruppe von Neonazis hätte sich wiederholt vor dem Haus versammelt, in dem die Familie damals lebte, und obszöne Beleidigungen geschrieen. Mehrfach sei sie beim Einkauf auf dem Parkplatz bedroht worden: „Dich und deine Kinder kriege ich!“ Das war ihr irgendwann zuviel. „Mir reicht’s“, sagt die gelernte Krankenpflegerin. „Die können mit mir Stress haben, aber die sollen meine Kinder in Ruhe lassen.“

Die Familien Claus und Welters sind keine Einzelfälle. Im Dezember 2009 hatten es Rechtsextremisten bereits geschafft, eine andere Familie aus Dortmund zu vertreiben, monatelanger Terror war vorausgegangen. Und auch Dortmund und Wuppertal sind keine Einzelfälle. In Aachen, einem der Schwerpunkte militanter Neonazis in NRW, schüchterten Anhänger der „Kameradschaft Aachener Land“ eine Familie über Monate hinweg ein, weil eines der Kinder 2009 zu einer Demonstration gegen Rechts gegangen war. Und auch in der scheinbar ruhigen Provinz – wie aktuell im oberbergischen Städtchen Radevormwald – häufen sich zuweilen die Zwischenfälle mit extrem rechtem Hintergrund.

Übergriffe aus Angst nicht angezeigt

Dabei sind die Zahlen der Behörden über rechte Delikte nur bedingt aussagekräftig. Die amtliche Statistik sei unvollständig, konstatieren Experten. Nicht selten würde der politische Hintergrund von Straftaten in Polizeiberichten nicht erwähnt. In anderen Fällen würden die Übergriffe gar nicht erst angezeigt. Oft aus Angst. Schaue man genauer hin, würde sich die Zahl rechter Gewalttaten in der Statistik um ein Drittel erhöhen, schätzt Heike Kleffner: „Gerade bei rassistischer und rechter Gewalt gibt es ein großes Dunkelfeld.“ Kleffner arbeitet im Beirat der Mobilen Opferberatung in Sachsen-Anhalt. Sogar aus Nordrhein-Westfalen erhält das Projekt Anfragen von Betroffenen, die Hilfe suchen. Denn eine von Behörden unabhängige Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt, aber auch für Menschen, die durch Neonazis „nur“ schikaniert und bedroht werden – wie es sie in ostdeutschen Bundesländern seit längerem gibt – existiert in NRW noch nicht.

„Die Einrichtung weiterer Beratungsstellen speziell für Opfer rechtsextremistischer Gewalt ist angesichts des breiten Hilfsangebotes, das in Nordrhein-Westfalen auf allen Ebenen zur Verfügung steht, nicht notwendig“, hieß es noch im November 2010 in einer Antwort des NRW-Innenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Anna Conrads. Aber das „breite Hilfsangebot“ – darunter der polizeiliche Opferschutz und der Weiße Ring – erreicht Betroffene offenbar nicht. Für den Weißen Ring beispielsweise arbeiten Ehrenamtler, keine Fachkräfte, die auf Traumata oder Rechtsextremismus spezialisiert sind.

Hingehen zu den Leuten, die Probleme haben

Das Problem scheint inzwischen erkannt. 300.000 Euro stehen im Landesetat bereit. Wichtige Fragen sind aber noch offen – etwa, wo die Beratungsstellen angesiedelt werden sollen, wie ihre Arbeit genau aussehen soll und nicht zuletzt, wann sie an den Start gehen können. Konzeptionelle Vorarbeiten hat die bei der Stadt Dortmund angesiedelte Koordinierungsstelle für Vielfalt, Toleranz und Demokratie geleistet. In der Stadt mit der größten Neonaziszene in NRW ist der Problemdruck auch am größten. Ein Angebot müsse her, das „niedrigschwellig ist, unabhängig ist, wo man eben keine Berührungsängste hat, das sozusagen nicht staatlich aufgebaut ist, sondern das aufsuchend ist, wo die Leute hingehen zu den Leuten, die Probleme mit Rechtsradikalen haben und denen weiterhelfen“, meint Stefan Mühlhofer, Leiter der Koordinierungsstelle. Sylvia Welters wartet darauf: „Wir brauchen das Gefühl, dass man jemanden hinter sich stehen hat, der mehr Ahnung hat. So sind wir für uns allein.“

* alle Namen der Betroffenen sind geändert

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