„Okuppations-Regime“ im Visier

Die junge Generation der ultranationalistischen Strömungen begriff schnell, dass eine vollständige Vertreibung aller Ausländer aus Russland fernab der Realität liegt. Ins Visier der Rechtsextremisten rücken immer öfter staatliche Vertreter und Institutionen, wie Polizisten und Wehrämter, deren Schwächung im Rahmen einer „nationalen Revolution“ der Destabilisierung bestehender politischer Ordnung dienen soll.

Freitag, 31. Dezember 2010
Ludmila Lutz-Auras
„Okuppations-Regime“ im Visier
Es herrscht die Grundannahme, im Kreml sitze ein vom Westen gesteuertes, von jüdischen Oligarchen gelenktes „Okuppations-Regime“, welches die Rohstoff-Ausbeutung des Landes organisiere.1) Seit dem Zusammenbruch der UdSSR gibt es in Russland zwar keine staatlich begünstigte Diskriminierung der Juden, deren Anzahl laut der im Jahr 2002 durchgeführten Volkszählung mit 229 938 etwa 0,16 Prozent der Gesamteinwohnerzahl der Russländischen Föderation beträgt,2) stattdessen grassiert jedoch ein offener Antisemitismus von unten. Antijüdische Ressentiments protegierende Publikationen liegen, zum Empören internationaler Menschenrechtler und Politiker, in nahezu jeder Buchhandlung völlig legal zum Erwerb bereit. So heißt es in dem zahlreiche Skandale ausgelösten, aber doch nicht verbotenen Werk Aleksandr Sevast'janovs „Es ist Zeit, ein Russe zu sein“:
Nicht einer der sich selbstachtenden Russen wird jemals vergessen, was die Juden mit seiner Heimat und seinen Blutsbrüdern im Laufe des 20. Jahrhunderts anrichteten. Die Russische Katastrophe ist erheblich schlimmer als der Holocaust. Das bezeugen sogar die Folgen dieses Jahrhunderts: Die Juden blühen heute regelrecht auf und üben eine ungeheure Macht über die Hälfte der Welt aus, wohingegen die Russen sich in einem monströsen, unglaublich unglückseligen Zustand befinden.3)
Das Porträtieren der Juden in Gestalt genetischer Träger des Bösen, Satandiener, Organisatoren der zionistischen Verschwörung mit dem Ziel, die Herrschaft über die ganze Welt, in erster Linie über Russland, zu erringen, in weitverbreiteten Monographien und Massenmedien, evozierte fatale Resultate. Neben den größtenteils als harmlos deklarierten, von einer rebellierenden jugendlichen Subkultur ausgehenden Hetzattacken, wie dem Aufruf Konstantin Kasimovskij (RNS) zur „restlosen Vernichtung der jüdischen Pest“4), trugen solche Veröffentlichungen auch weitaus entsetzlichere Folgen: Am 13. Januar 2005 – genau zwei Wochen vor den Gedenkfeiern anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau – ereilte die russländische Generalstaatsanwaltschaft ein Brief, in dem die Verlautbarung erklang, dass Juden selbst Anschläge auf Synagogen sowie Schändungen jüdischer Friedhöfe verübten, um „Strafmaßnahmen gegen (russische) Patrioten zu erreichen“. Des Weiteren versicherten die Autoren des Schreibens, dass in der ganzen Welt eine beachtliche Menge allgemein anerkannter Quellen existiere, auf deren Grundlage sich ein unstrittiger Schluss ergebe: „Die ablehnenden Einschätzungen der für das Judentum typischen Eigenschaften und Aktivitäten gegen Nichtjuden durch russische Patrioten entsprechen der Wahrheit, wobei diese Aktivitäten nicht zufällig, sondern im Judaismus vorgeschrieben sind und seit zwei Jahrtausenden praktiziert werden.“ Die Absender erbaten ferner, die aufgelisteten „himmelschreienden Fakten“ zu prüfen und, wenn sie sich bestätigen, auf der Basis des 2002 verabschiedeten Gesetzes „Über den Widerstand gegen extremistische Tätigkeit“ sowie des Artikels 13 der Verfassung der Russländischen Föderation, dem Verbot der „Gründung und Tätigkeit gesellschaftlicher Vereinigungen, deren Ziele sich auf die Schürung von sozialem, rassischem, nationalem und religiösem Hader richtet“, offiziell eine Strafsache über die Untersagung aller religiöser und nationaler jüdischer Vereinigungen als extremistisch einzuleiten.5)

Diese in der sich selbst patriotisch definierenden Zeitung „Orthodoxe Rus'“ abgedruckten Eingabe signierten etwa 500 Personen, darunter auch Abgeordnete des Unterhauses des Parlaments, wie der ehemalige Verteidigungsminister Igor' Rodionow, der frühere Gouverneur der Region Krasnodar Nikolaj Kondratenko oder der General a.D. Albert Makašov. Der amtierende Präsident Vladimir Putin erklärte in Auschwitz, dass es in Russland „manchmal“ antisemitische „Erscheinungen“ gäbe, für die er sich zu tiefst schäme.6) Sein Außenministerium kritisierte den Brief als „offen antisemitisch“, woraufhin die Mehrheit der Parlamentarierer auf Initiative der Partei „Einheitliches Russland“ am 4. Februar 2005 eine ihn verurteilende Resolution beschloss. Allerdings verlief die begleitende Debatte nicht ohne mehr als eindeutige Akzente: Die Abgeordnete der KPRF Tamara Pletneva verlangte, die Ergänzung der in der Resolution enthaltenen Passage, dass es „in Russland keinen Platz für Antisemitismus geben“ dürfe, durch „und Zionismus“.7)

Der Oberste Rabbiner Russlands Berl Lazar verurteilte die vorrangig von den Kommunisten und den Deputierten der linksnationalistischen Partei „Rodina“ (Heimat) in die Duma zur Abstimmung in Form des offenen Briefes eingereichten Antrag und warnte vor enormer Potenzierung antisemitischer Tendenzen, womit er leider Recht behalten sollte: Am 11. Januar 2006 drang ein mit Messer bewaffneter, „Ich bin gekommen, um zu morden“ und „Heil Hitler“ schreiender Jugendliche während einer Gebetsstunde in eine Moskauer Synagoge ein. Der zur Tatzeit zwanzigjährige Aleksandr Kopzev, den die Staatsanwaltschaft mit der Begründung eines antisemitisch motivierten Versuch des Mordes zu mehreren Jahren Haft verurteilte, verletzte acht Personen, darunter zwei Rabbiner und einige der Zeremonie beiwohnenden Gläubige aus dem Ausland.8) Vor dem Hintergrund der anhaltenden Kritik bezüglich des unzureichenden Engagements des Staates im Kampf gegen den Antisemitismus stellen solche Gerichtsurteile gegen antijüdisch handelnde Straftäter in der Russländischen Föderation ein für die Menschenrechtler äußerst erfreuliches Novum dar, da sowohl in der Sowjetunion als auch im postkommunistischen Russland der 1990er Jahre Prozesse dieser Art aus ideologischen oder imageschädigenden Gründen vehement unterdrückt wurden.


Fußnoten:


1) Galina Koževnikova: Stellvertretende Direktorin des Moskauer informations-analythischen Zentrums „Sova“. Telefoninterview am 12.02.2010.

2) Vserossijskaja perepis' naselenija 2002 goda. [Gesamtrussländische Volkszählung von 2002], URL: http://www.perepis2002.ru/index.html?id=11 [4.04.2010].

3) Sevast'janov: Vremja byt' russkim! [Es ist Zeit, ein Russe zu sein!], S. 527.

4) Kasimovskij, Konstantin: O evrejach. [Über die Juden], in: Šturmovik 2 / 1995.

5) Obraš?enije k General'nomu prokuroru RF V. V. Ustinovu v svjazi s usilivšimsja primenenijem k russkim patriotam st. 282 UK RF o „vozbuždenii nacional'noj rozni“ po otnošeniju j evrejam. [Schreiben an den Generalstaatsanwalt der RF V. V. Ustinov betreffend einer stärkeren Zuwendung gegenüber russischen Patrioten nach Art. 282 des Strafgesetzbuches der RF über „die Entfachung nationaler Volksverhetzung“ im Bezug auf Juden], URL: http://www.rusk.ru/st.php?idar=103072 [11.03.2010].

6) Vladimir Putin: Vystuplenije na forume „Žizn' narodu mojemu!“, posveš?ennom pamjati žertv Osvencima. 27 janvarja 2005 g. [Vladimir Putin: Rede auf dem Forum „Leben für mein Volk!“, gewidmet dem Gedenken den Opfern von Auschwitz], URL: http://archive.kremlin.ru/text/appears/2005/01/83095.shtml [13.03.2010]

.7) Vgl. hierzu Alekseeva, Oksana: Dmitrij Rogozin otvetil ravvinu po-evrejski. [Dmitrji Rogozin antwortete dem Rabbiner auf Hebräisch], in: Kommersant 11.02.2005; Kolesni?enko, Aleksandr: „ A za?em o evrejach pesni so?injajut?“ [„Und wofür werden Lieder über die Juden ausgedacht?“], in: Novyje izvestija 7.02.2005.

8) Minabutdinov, Sergej: Prervannaja molitva. [Das unterbrochene Gebet], in: Rossijskaja gazeta 12.01.2006.
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