Urteil veröffentlicht
Oberverwaltungsgericht Münster: Starker Verdacht für verfassungsfeindliche Bestrebungen in der AfD
Knapp zwei Monate nach der Entscheidung, dass der Verfassungsschutz die AfD als rechtsextremistischen Verdachtsfall einstufen darf, hat das Oberverwaltungsgericht Münster nun das Urteil vollständig veröffentlicht. Die Ausführungen zeigen: Knapp war es nicht. Die Belege beginnen ganz oben, einige Funktionäre tauchen besonders häufig auf.
Das Urteil des 5. Senats des Oberverwaltungsgerichts für Nordrhein-Westfalen in Münster umfasst 354 Randnummern, mittels derer Juristen Urteile strukturieren und statt Seitenzahlen nutzen, um beim Zitieren den Gedanken zu markieren, auf den sie sich beziehen. Nach einer Einordnung und dem Verfahrensgang wird zunächst die allgemeine Zulässigkeit der Klage behandelt. Interessant wird es für die inhaltliche Bewertung der AfD erst weiter hinten im Urteil, der Begründetheit, in der konkreten Entscheidung beginnend mit Randnummer 200.
Es besteht für das Gericht nach Ansicht der vorgelegten Belege der starke Verdacht, dass „die politischen Zielsetzungen der Klägerin [AfD] auch beinhalten, den Schutz der Menschenwürde außer Geltung zu setzen.“ Im Zentrum steht hier ein ethnisch oder kulturell verstandenes Volksverständnis.
Prüfungspunkte eigentlich für das Parteienverbot entwickelt
Ebenfalls stark sei der Verdacht, dass die AfD Bestrebungen verfolgt, die gegen die Menschenwürde von muslimischen Migranten gerichtet sind, indem pauschal, ausgrenzend und diskriminierend über sie gesprochen werde. Relevant waren für die Richter Aussagen über Muslime wie „Messermänner“, „Parasiten“, „Invasoren“ und „Eindringliche“, sowie die Zuschreibung als „nicht-integrierbar“ oder über den Islam als „totalitäre Ideologie“.
Das Gericht folgt damit den Prüfungspunkten, die das Bundesverfassungsgericht im Urteil zur NPD angewandt hatte. Der Maßstab ist noch mal deutlich strenger und wurde für die Frage des Parteienverbots entwickelt, nicht für die Beobachtung, einem wesentlich geringeren Eingriff in einer Partei. Geprüft werden hier Verstöße gegen die wesentlichen Elemente, die für ein freiheitliches und demokratisches Zusammenleben schlechthin unverzichtbar sind: Menschenwürde, Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip.
Ein ethnisches Volksverständnis führe zur Unterteilung des Staatsvolkes in Bürger unterschiedlicher Klassen, was gegen Menschenwürde und Demokratieprinzip verstößt. Zudem verletzten herabwürdigende Äußerungen gegenüber gesellschaftlichen, religiösen oder ethnischen Minderheiten jenseits der Frage ihrer Staatsbürgerschaft diese in ihrer Würde.
Richter: AfD hält mit weiteren Grausamkeiten eventuell hinterm Berg
Ein Verdacht bestehe weiterhin dahingehend, ob sich die AfD gegen das Demokratieprinzip richte, in dem jenseits legitimer Machtkritik staatliche Institutionen und Amtsträger, andere demokratische Politiker und Parteien in ihrer Gesamtheit „ständig pauschal in polemischer, teilweise diffamierender und verunglimpfender Weise angegriffen werden“. Hier meint das Gericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts noch mal deutlich weitergehende Äußerungen als die in der AfD omnipräsente „Altparteien“-Aussagen.
Eine besondere Rolle spielt die vom Bayerischen Rundfunk aufgedeckte Chatgruppe „Alternative Nachrichtengruppe Bayern“, aus der im Dezember 2021 Auszüge veröffentlicht wurden. Äußerungen in der Gruppe voller bayerischer AfD-Mandatsträger in Land und Bund ließen den Wunsch nach einem Umsturz vermuten. Im Zentrum stand die damalige Landtagsabgeordnete Anne Cyron und Georg Hock, ein Ansprechpartner des aufgelösten Höcke-Flügels, der noch heute dem Landesvorstand angehört. Der gesamte Chatverlauf lag nicht vor und soll von der AfD gelöscht worden sein. Strafrechtliche Ermittlungen wurden eingestellt. Die Richter sehen aber gerade durch solche Gruppen das staatliche Bedürfnis, nachrichtendienstliche Mittel zur Aufklärung solcher Diskussionen einzusetzen. Ebenso vermuten die Richter, dass die AfD ihre geplanten Diskriminierungen für Deutsche mit Migrationshintergrund aus taktischen Gründen nicht vollständig offenlegt, was ebenfalls einen Aufklärungsanspruch des Verfassungsschutzes begründe.
Obwohl sich die Entscheidung des Gerichts auf eine Vielzahl an Einzelbelegen stützt, werden einige AfD-Funktionäre öfter und prominenter im Urteil aufgeführt. Sie zeigen auch, dass sich die Einstufung nicht auf verirrte Einzelmeinungen weniger wichtiger Personen stützt, wie es die AfD gerne darstellen möchte, sondern die Belege aus den Spitzen der Partei kommen.
Schon das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln hatte Aussagen, die ein ethnisches Volksverständnis nahelegen, bei der heutigen Parteivorsitzenden Alice Weidel und dem Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland aufgeführt. Immer wieder stützt sich das Urteil auf Aussagen von Björn Höcke und den damaligen Mitgliedern des Bundesvorstandes, Maximilian Krah und Christina Baum. Bei Krah wird zusätzlich die Wahl zum Spitzenkandidaten zur Europawahl hervorgehoben. Er war im Vorfeld des Bundesparteitags aus dem Bundesvorstand ausgeschieden, Baum verlor ihren Platz in einer Kampfkandidatur. Sie wird mit der recht eindeutigen Aussage zitiert, wonach sie unter Volk eine „Abstammungsgemeinschaft“, eine „ethnisch gleiche Gruppe“ verstehe. Ihr und Höcke werden Aussagen zugeschrieben, wonach von „Remigration“ im Sinne des Potsdam-Treffens auch deutsche Staatsangehörige umfasst sein sollen.
Belege durchgehend aus der Spitze der AfD
Auch werden Belege aufgeführt, wonach Deutschen mit Migrationshintergrund nur ein rechtlich abgewerteter Status zuerkannt werden soll, was durch die Bezeichnung „Passdeutsche“ zum Ausdruck komme. Hier finden sich neben Gauland und Weidel auch der Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider. In die gleiche Kategorie fallen die Tiermetaphern, wie sie etwa der bayerische AfD-Landesvorsitzende Stephan Protschka gebraucht hatte. Seltsamererweise spricht das Urteil hier führende Funktionäre von der Verwendung frei, sieht sie lediglich bei Kreisverbänden und anderen politisch aktiven Mitgliedern.
Als Beleg, dass die AfD dunkelhäutige Spieler der Nationalmannschaft nicht als Deutsche ansieht, wird eine Aussage von Fabian Küble, Beisitzer im Bundesvorstand der Jungen Alternative herangezogen.
Hinter der Aussage von Christina Baum nach einem „Wahlrecht nach Abstammung“ vermuten die Richter weitergehende Vorstellungen als nur die Rückkehr zum vor 2000 geltenden Staatsbürgerschaftsrecht.
Auch bei den herabwürdigenden Äußerungen gegenüber Muslimen spricht das Gericht von einer Grundtendenz in der Partei und liefert entsprechend prominente Belege von Alice Weidel und dem Bundesvorstandsmitglied Stephan Brandner sowie von aktuellen und ehemaligen Abgeordneten im Bundestag und in den Landtagen, sowie von Landesvorsitzenden wie Jan Bollinger (Rheinland-Pfalz) und Emil Sänze (Baden-Württemberg).
Moscheen und Minarette
Relevant sind für die Richter auch die Forderungen innerhalb der AfD, Muslimen den Bau von Moscheen und Minaretten zu untersagen. Allein das lediglich auf Grund der Religion einer bestimmten Glaubensgemeinschaft der Bau bestimmter religiöser Gebäude unmöglich gemacht werden soll, während andere nicht eingeschränkt werden sollen, verletze die Menschenwürde. Auch hier ist wieder Christina Baum vertreten. Die von ihr mitgeführte Organisation „Kandel ist überall“ hatte in ihrem Manifest den Bau von Moscheen untersagen und wegen angeblich unüberwindlicher Unterschiede vor dem Kontakt mit nicht westlichen Migranten warnen wollen. Keines der beiden in Frage kommenden Landesverfassungsschutzämter hatten das Manifest zum Anlass genommen, „Kandel ist überall“ unter Beobachtung zu stellen und die Aussagen als hinnehmbare Kritik an der Migrationspolitik verharmlost.
Die Richter sind sich unsicher, wie weit die Forderungen in der AfD verbreitet sind, andererseits fehlten Gegenpositionen oder Kritik an den Forderungen Baums und Höckes. Die AfD hier mittlerweile deutlich weiter. Nicht erwähnt werden im Urteil etwa die inzwischen von der bayerischen AfD-Landtagsfraktion eingereichten Gesetzentwürfe (beide abgelehnt), wonach in Bayern ein Minarettverbot ins Baugesetz geschrieben werden sollte.
Auseinandergesetzt hat sich das Gericht auch mit augenscheinlich gegenläufigen Erklärungen der AfD, etwa der „Erklärung zur deutschen Staatsangehörigkeit und Identität“ von Anfang 2021. Oder den „Anmerkungen zu den Interpretationen des Verfassungsschutzes“ von Björn Höcke von März 2020. Auch hier kommen die Richter zu dem Eindruck, es bestehe der starke Verdacht, „dass die genannten Beschlüsse des Bundesvorstands lediglich aus prozesstaktischen Gründen kurz vor der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht getroffen worden sind.“
Aktivitäten konterkarieren AfD-Bekenntnisse
Begründet wird dies damit, dass keine wirksame Distanzierung von Funktionären wie Krah und Baum erfolgt, sie im Gegenteil weiter in der Partei aufsteigen konnten. Zumindest das wurde mit dem Parteitag in Essen korrigiert. Erwähnt wird auch Gaulands Äußerung, die heutige Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz in Anatolien entsorgen zu wollen. Gauland habe sich zwar davon distanziert, was ihm als „einmalige Entgleisung“ zugutegehalten wird. Gewertet wird jedoch das hohe Maß an Zuspruch, das er aus der Partei dafür bekommen habe.
Deutlich kritischer für die AfD ist allerdings die Aussage, ein abstraktes Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung reiche nicht aus, „den auf konkrete Äußerungen zahlreicher, auch führender Mitglieder gestützten Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen zu entkräften.“ Die Aktivitäten der AfD würden die temporären Bekenntnisse zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung geradezu „konterkarieren“.