„Nürnberg 2.0“: Online-Pranger mit Politikern, Wissenschaftlern, Kultur- und Medienschaffenden
Ein radikaler Impfgegner aus dem nahe Bonn gelegenen Euskirchen hat im sozialen Netzwerk TikTok einen Online-Pranger unter dem Namen „Nürnberg 2.0“ eingerichtet. Nach einem ersten kritischen Medienbericht sind die Videos nun nicht mehr aufrufbar.
Knapp über 100 Fotos, Namen und kurze „Anklageschriften“ zu Politikern, Wissenschaftlern, Kultur- und Medienschaffenden hatte Andreas B. binnen weniger Tage auf seinem TikTok-Konto veröffentlicht. Neben den Namen und Fotos wurden in den nur einige Sekunden langen Clips mitgeteilt: „Ich komme ins Gefängnis, weil ich den Pandemie-Terror förderte.“ Danach folgten die Anklagepunkte respektive Straftaten, die der Rheinländer den Menschen vorwarf. Aufgelistet waren etwa Udo Lindenberg, Herbert Grönemeyer und Carolin Kebekus, aber ebenso Politiker wie Armin Laschet und Mitglieder der Bundesregierung wie Christian Lindner, Olaf Scholz und Nancy Faeser.
B. lebt in Euskirchen und ist dort als Straßenmusiker bekannt, er betrachtet sich selbst als Anarchist und Aktionskünstler. Er nahm an Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und gegen das Impfen teil. Dabei demonstrierte er auch gemeinsam mit Rechten bis Rechtsextremen und Anhängern der AfD sowie der Partei Die Basis. Er hielt im Straßenbild Euskirchens aber auch alleine Schilderaktionen ab und zeigte zuweilen Bilder von Menschen, denen er einen neuen Prozess in Nürnberg wünschte. Als Maskengegner fiel er auf, weil er Menschen, Kontrolleure oder Fahrer in öffentlichen Verkehrsmitteln, die ihn zu Zeiten der Maskenpflicht maßregeln wollten, provozierte und mit Nazis gleichsetzte.
Strafbefehl wegen verfassungsfeindlicher Symbole
Seinen TikTok-Kanal nannte B. „Nürnberg 2.0.“ und „outete“ dabei Menschen, denen er höchstselbst – wie im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess der Alliierten – Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorwarf. Diese hätten sie seiner Meinung im Zuge der Corona- und Impfdebatte begangen. Interessant ist an alldem, dass der Straßenmusiker erkennbar als Urheber auftrat. Auch zuvor schon war gegen ihn wegen Postings in seinem Telegram-Kanal ermittelt worden. In einem Fall wurde ein Strafbefehl über 900 Euro wegen Verwendens verfassungsfeindlicher Symbole rechtskräftig. Die Summe finanzierte er über Spenden der Follower.
Der Euskirchener nutzt Nazisymbole jedoch nicht zur Glorifizierung des Nationalsozialismus, sondern als Feindmarkierung. Auf diese Weise will er etwa auch auf seinem Telegram-Kanal Politiker als neue Nazis labeln. Bundesinnenministerin Nancy Faeser setzte er erst vor wenigen Tagen mit dem Naziterror und Adolf Hitler gleich und nannte sie „oberste Verfassungsvergewaltigerin“. Den früheren niedersächsischen Landesinnenminster und jetzigen Verteidigungsminister Boris Pistorius nannte er im Januar einen „Coronafaschist[en]“. Faktenchecker in Medien und Wissenschaft diffamierte B. in einem Posting im Oktober 2022 als „Vernichtungskammern für die Wahrheit“ und veröffentlichte daneben ein Bild vom Eingang einer Gaskammer.
„Corona-SS“ und „Gashahndreher“
Die Polizei nannte B. in einem Posting im Januar 2022 „Corona-SS“, wobei er diesen Beitrag später überraschend wieder löschte. Gegnern wirft er immer wieder vor, die neuen „Gashahndreher“ und Nazis zu sein. Im Dezember 2021 montierte er bei einer Grafik das Gesicht von Angela Merkel mit Schnauzbart in ein Hitler-Porträt und nannte sie unsere „alte Führerin“. Antifaschisten provoziert er immer wieder, nannte sie provokativ in Frakturschrift „Die Gasjugend“ und „coronafaschistische, Gashahn-drehende Jungschläger“. Sich selbst betrachtet der Impf- und Maskengegner demgegenüber als „Querrrrjude“ – meint: „Querdenker“ und Ungeimpfte seien die neuen Juden.
B. relativiert auf diese Weise seit langem den Holocaust. Er weiß dennoch sehr genau, wie grausam und mörderisch der historische Nationalsozialismus war – und er weiß ebenso, dass die Corona-Maßnahmen und das Impfen damit nicht zu vergleichen sind. Er nutzt solche Vergleiche dennoch, um seine Gegner und „Feinde“ aus der Fassung zu bringen sowie diese größtmöglich zu provozieren. Seine Aktionen markiert er zugleich vorsorglich als „Satire“. Laut Medienbericht aus Baden-Württemberg hat nun jedoch mindestens ein Mensch, den B. als „Angeklagten“ via TikTok gelabelt hatte, Strafanzeige erstattet.
Selbstermächtigt am „Tag der Abrechnung“
Der Traum von einem „Nürnberg 2.0“ stammt aus der rechtsradikalen Szene. Hinter einen solchen Online-Pranger wurden vor Jahren schon der unterdessen verstorbene fanatische Islamhasser Michael Mannheimer vermutet. „Feindeslisten“ lenken dabei den Blick auf potentielle Opfer. Sind sie konkret und enthalten persönliche und private Angaben, können sie Angriffe begünstigen.
Aber auch ohne solche Daten werden „Feinde“ markiert. Menschen werden eingeschüchtert, sollen mundtot gemacht werden. Rechtsradikale und „Querdenker“ haben während der Pandemie die Idee von einem neuen „Nürnberg 2.0“ wieder aufgegriffen. Sie fühlen sich selbstermächtigt und träumen davon, am „Tag der Abrechnung“ selbst Gericht zu halten. Nun schon können jedoch Profile wie „Nürnberg 2.0“ Mitstreiter enthemmen, können Gewalttaten gegen „Angeklagte“ nach sich ziehen oder – siehe Walter Lübcke – zu Morden führen.
Bloß nicht in den Knast
Nach dem Löschen respektive Privatschalten der rund 110 Videoclips von seinen „Angeklagten“ teilte B. am Nachmittag über seinem Telegram-Kanal mit, „Gashahndreher“ hätten sein „Projekt“ als Feindliste „fehlinterpretiert“. Daher habe er alles „nun leider einstellen müssen. Jeder hat so seine Grenze und drohende Haft, weil ich angeblich zur Selbstjustiz aufrufe, da ist dann auch bei mir Schluss, da müssen sich mutigere Kämpfer finden.“