„NSU 2.0“: Fast sechs Jahre Haft für rechten Drohbriefschreiber
Das Frankfurter Landgericht hat Alexander M. als alleinigen Urheber der rassistischen „NSU 2.0“-Drohserie zu fünf Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Die Strafkammer will aber nicht ausschließen, dass der 54-jährige Berliner einen Helfer in der hessischen Polizei hatte.
Zu Beginn ihrer Urteilsbegründung verließ Corinna Distler gedanklich den Gerichtssaal. Die Richterin erinnerte an die Worte, die draußen an der Fassade des Gebäudes prangen, in dem ihre Strafkammer neun Monate lang über die rechten Drohschreiben des „NSU 2.0“ verhandelt hat. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht da in großen Lettern zu lesen – eine Skulptur, veranlasst einst von Fritz Bauer, dem Frankfurter Staatsanwalt und Vater der Auschwitz-Prozesse. „Er hätte wohl nicht gedacht, dass so viele Jahre nach seinem Tod noch rechtsextreme Straftaten in diesem Saal verhandelt werden“, sagte Distler. Und: „Dieser Prozess hat gezeigt, wie schrecklich es ist, wenn die Menschenwürde durch Sprache angetastet wird – insbesondere, wenn es aus dem Geheimen heraus geschieht.“
Der Mann, auf den diese Sätze gemünzt waren, muss nach dem Willen des Frankfurter Landgerichts nun für fünf Jahre und zehn Monate ins Gefängnis – wegen insgesamt rund 80 Fällen der Bedrohung, der Beleidigung, der Volksverhetzung, der Androhung von Straftaten, des Verwendens verbotener NS-Symbole, der versuchten Nötigung, unter anderem. Nach 30 Verhandlungstagen zeigte sich die Strafkammer am Donnerstag überzeugt, dass der angeklagte Alexander M., 54 Jahre alt, für die Serie wüstester rassistischer, sexistischer und antisemitischer Schmähungen verantwortlich ist, mit der unter dem Label „NSU 2.0“ zweieinhalb Jahre lang vor allem prominente, demokratisch engagierte Frauen überzogen worden waren. Und dass er dabei als Einzeltäter gehandelt habe. „Wir sind davon überzeugt“, sagte Distler, „dass Sie die Drohschreiben alle allein geschrieben haben.“
Drohschreiben seit 2018
In ihrer Urteilsbegründung legte die Strafkammervorsitzende die zahlreichen Indizien dar, die für die Schuld des arbeitslosen IT-Technikers aus dem Berliner Wedding sprechen. Von den vielfältigen Spuren auf seinem Computer bis zu der sehr besonderen Mischung aus juristischen Floskeln, NS-Jargon und rüdestem Unflat, die sich durch sämtliche Drohschreiben zog. „Es ist alles aus einem Guss“, befand die Richterin und schloss dabei ausdrücklich auch das erste Drohfax an die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız ein, mit dem die Drohserie im August 2018 begonnen hatte. Denn darüber war vor Gericht wie in der Öffentlichkeit aus guten Gründen besonders gestritten worden.
Das Fax, mit dem der kleinen Tochter der Anwältin barbarische Gewalt angedroht wurde, enthielt private Daten, die kurz zuvor im 1. Frankfurter Polizeirevier abgerufen worden waren, bei einer ungewöhnlich ausführlichen Abfrage. Im Zuge der Ermittlungen flog dann nicht nur eine rechte Chatgruppe in diesem Revier auf, sondern es ergab sich auch der Verdacht, dass dieses erste Fax des „NSU 2.0“ von einem Beamten des Reviers verschickt worden sein könnte. Dem erteilte das Gericht jetzt zwar eine Absage. Zugleich jedoch stellte es der hessischen Polizei nicht den Persilschein aus, den die Staatsanwaltschaft in ihrem Schlussvortrag gefordert hatte. „Es handelt sich hier nicht um einen Polizeiskandal“, hatte Oberstaatsanwalt Sinan Akdogan Ende Oktober kategorisch behauptet, als er in seinem Plädoyer siebeneinhalb Jahre Haft für Alexander M. und zugleich einen Rundumfreispruch für die Polizei verlangte.
Angeklagter: „Unverschämte Lügen und Manipulationen“
Doch anders als die Anklagebehörde hielt es die Strafkammer nicht für erwiesen, dass Alexander M. die Frankfurter Polizei – und später auch noch Reviere andernorts – durch Anrufe als vermeintlicher Kollege genarrt habe, um an geheime Daten seiner Opfer zu gelangen. „Wir halten es für sehr wahrscheinlich, dass Sie das waren“, erklärte Distler. „Aber es bestehen Zweifel.“ So sei durchaus auch möglich, dass Alexander M. die Informationen von einem Polizisten über das Darknet bekommen habe. Doch das zu klären, sei einem anderen Prozess vorbehalten. Gegen den verdächtigen Beamten und eine Kollegin wird von der Frankfurter Staatsanwaltschaft noch ermittelt.
Vor der Urteilsverkündung hatte der Angeklagte entgegen seiner vorherigen Ankündigung noch einmal das Wort ergriffen und in einem, wie er sagte, 94 Seiten umfassenden „letzten Wort“ noch einmal seine Unschuld beteuert. Nach seiner Darstellung steckte hinter dem „NSU 2.0“ eine auch aus Polizist*innen bestehende Chatgruppe im Darknet, der er lediglich zeitweilig als eine Art teilnehmender Beobachter angehört habe – wofür er sich gleichwohl entschuldigen wolle: „Das bereue ich zutiefst, das hat mir nichts gebracht.“ In dem rüden Ton, den auch sein Verhalten vor Gericht gekennzeichnet hatte, warf er Polizei und Staatsanwaltschaft „unverschämte Lügen und Manipulationen“ vor und forderte erneut seinen Freispruch. Und für den Fall seiner Verurteilung möge ihm wenigstens Haftverschonung gewährt werden: „Ins Ausland gehe ich garantiert nicht“, erklärte er. „Denn das Ausland kann ich nicht leiden.“
Polizisten beteiligt?
Das Gericht überzeugte er damit nicht. „Ein standhafter deutscher Mann hätte zu seinen Taten gestanden“, gab ihm Richterin Distler kühl mit auf den Weg. Das hohe Strafmaß begründete sie unter anderem mit den Folgen der Drohschreiben: „Wir müssen berücksichtigen, dass Sprache genauso verletzen kann wie eine Körperverletzung.“ Der Imageschaden für die Polizei könne Alexander M. indes nicht angelastet werden, sagte Distler und widersprach auch hier der Staatsanwaltschaft. Diesen Vertrauensverlust habe die Polizei schon selbst zu verantworten.
Seda Başay-Yıldız, die die von einer Solidaritätskundgebung begleitete Urteilsverkündung zusammen mit den ebenfalls betroffenen Linken-Politikerinnen Janine Wissler und Martina Renner verfolgt hatte, zeigte sich im Anschluss einerseits zufrieden: „Von diesem Urteil geht eine wichtige Signalwirkung für alle aus, die Hass und Hetze ausgesetzt sind.“ Andererseits seien zentrale Fragen nach wie vor offen: „Der Angeklagte muss Hilfe gehabt haben“, meint die Anwältin. „Es hätte ein Polizist mit auf der Anklagebank sitzen müssen.“
Das sah auch die Linke-Bundestagsabgeordnete Martina Renner so. Sie forderte weitere Ermittlungen, geführt am besten nicht mehr von der hessischen Polizei, sondern von außen, etwa durch das Bundeskriminalamt: „Ich erwarte mir da mehr Nachdruck und weniger Befangenheit.“ Janine Wissler, die aus Hessen stammende Bundesvorsitzende der Linkspartei, über deren private Daten Alexander M. auch verfügt hatte, kritisierte Politik und Staatsanwaltschaft für ihr beständiges Leugnen von grundlegenden Missständen bei der hessischen Polizei. „Es ist doch nur Wunschdenken, wenn es heißt, es gebe keine rechten Netzwerke“, sagte Wissler. „Dieses reflexartige Verteidigen muss aufhören.“