Querdenker und Reichsbürger

Nordrhein-Westfalen: „Entgrenzung“ sorgt für deutliche Zunahme bei politischen Straftaten

Im Jahr 2022 sind in Nordrhein-Westfalen die politisch motivierten Straftaten sehr stark angestiegen. Dies hat mit den „Spaziergängen“ aus dem Spektrum der „Querdenker“ und Impfgegner sowie mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu tun. Um das zu erkennen, muss man jedoch genauer hinschauen.

Samstag, 15. April 2023
Michael Klarmann
Oft eint die Demonstranten eine prorussische Einstellung, hier in Ramstein unter dem Motto "Ami go home"
Oft eint die Demonstranten eine prorussische Einstellung, hier in Ramstein unter dem Motto "Ami go home"

Am Freitag lästerte der Telegram-Kanal „Freie Nordrhein-Westfalen“ über den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2022. Einen Tag zuvor hatte Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) diesen in Düsseldorf vorgestellt. „Nachdem die Freien Nordrhein-Westfalen im Bericht für 2021 im Zusammenhang mit dem Coronaprotestgeschehen erwähnt wurden […], tauchen wir im Bericht 2022 nicht auf“, hieß es in einem Posting. Dem Kanal mit einer erkennbaren Nähe zu Rechtsextremisten und Reichsbürgern folgten im Frühjahr 2022 fast 18.000 Abonnenten.

Erwähnt wurden die „Freie Nordrhein-Westfalen“ gleichwohl vor einem Jahr nicht im Landesverfassungsschutzbericht 2021, sondern in dem parallel dazu veröffentlichten „Sonderbericht zu Verschwörungsmythen und ‚Corona-Protestlern‘“. Festgestellt wurde in dem vom Innenministerium NRW seinerzeit publizierten Schreiben, dass der Telegram-Kanal im Dezember 2021 im Zuge der „Spaziergänge“ gegründet wurde. Sein Ziel war es seitdem, die unzähligen illegalen Versammlungen der Szene zu bewerben und Netzwerkarbeit zu leisten. Und auch wenn der Telegram-Kanal im NRW-Verfassungsschutzbericht 2022 namentlich nicht mehr genannt wird, so sind seine Folgen gut dokumentiert.

„Delegitimierer“ und ihre „Querfrontstrategien“

Am Donnerstag stellte der nordrhein-westfälische Innenminister Reul den neuen Verfassungsschutzbericht NRW für das Jahr 2022 vor. Reul wies darauf hin, dass radikalisierte und extremistische Szenen sich unterdessen mischen. Seine Behörde beobachte dabei eine zunehmende „Entgrenzung“ der Extremismusbereiche. Auf Seite 54 weist der Landesverfassungsschutzbericht auf die Gefahren der „Querfrontbildung“ hin. Gemeint ist damit jene Querfront, die zunächst gegen Corona-Schutzmaßnahmen und das Impfen, nunmehr vordergründig aber für Frieden auf die Straße geht. Reul konkretisierte bei der Presskonferenz, jenes „Entgrenzen geschieht aktuell öfter über die sogenannten Friedensdemonstrationen“. Dabei sei zuweilen fraglich, ob „das noch eine Friedensdemo oder schon eine rechtsextremistische Kundgebung“ sei.

In diesem Zusammenhang verweist der Landesverfassungsschutzbericht 2022 auch auf die „Delegitimierer“ hin. Sie sprechen dem demokratischen Rechtsstaat seine Legitimation ab und leiten daraus eine Selbstlegitimierung her für ihren Widerstand und ihre Umsturzphantasien. Nicht zuletzt die „Delegitimierer“ nutzten, heißt es auf Seite 59, „den Antisemitismus als Brückennarrativ bei Entgrenzungs- und Querfrontstrategien, beispielsweise im Zuge der Corona-Proteste.“ Und eben jene Szene ist mitverantwortlich dafür, dass die politisch motivierten Straftaten in NRW deutlich angestiegen sind.

Starker Anstieg bei den Straftaten

Politisch rechts motivierte Straftaten stiegen in NRW von 3.135 (2021) auf 3.453 (2022) an. Politische Straftaten, die den klassischen Extremismen „nicht zuzuordnen“ sind, stiegen von 1.787 (2021) auf 3.819 (2022) an. Im Phänomenbereich „ausländische Ideologie“ verzeichnete NRW 2021 nur 211 Straftaten, 2022 aber 792. Bei den zusätzlich gesondert aufgeschlüsselten Gewalttaten stiegen die Taten beim Punkt „ausländische Ideologie“ von 27 (2021) auf 92 (2022), die „nicht zuzuordnenden“ Gewalttaten stiegen von 69 (2021) auf 107 (2022). Diese Entwicklung ist bedenklich, denn alle drei Bereiche der politisch motivierten Kriminalität haben mit der rechten Szene zu tun.

Im Mai 2022 wies die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, darauf hin, das der Bereich „nicht zuzuordnen“ die Häufigkeit von und einen Anstieg bei den rechten Straftaten „verharmlost“. Nach der Veröffentlichung des damaligen Bundesverfassungsschutzberichtes teilte Renner ferner mit: „Das Innenministerium muss endlich eingestehen, dass im Jahr 2021 die Zahlen im Bereich der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) rechts eigentlich fast doppelt so hoch ausfallen müssten und damit faktisch explodiert sind. Für [2021] zählt das Bundesinnenministerium 21.339 Straftaten […] im Phänomenbereich ‚nicht zuzuordnen‘. Das entspricht einer Steigerung um 147,44 % im Vergleich zum Vorjahr.“ Renner verwies darauf, das politisch „nicht zuzuordnende“ Täter oder Tatverdächtige auch rechtes Gedankengut vertreten oder mir Rechten kooperieren.

Querfront-Aktivisten nicht zuzuordnen?

Besonders die Straftaten der „Delegitimierer“ respektive Querfront-Aktivisten werden oft in den behördlichen Statistiken weder dem rechten, noch dem linken Spektrum zugeordnet. Zwar gab es auch schon vor Aufkommen der Querdenker und Reichsbürger die gesonderte Auflistung „nicht zuzuordnender“ politisch motivierter Kriminalität. Doch seitdem diese aktiv wurden und sich radikalisierten, steigen die Zahlen in diesem Bereich der PMK stetig an. Denn für Behörden entspricht diese Szene oftmals nicht dem klassischen Rechts-Links-Schema.

Journalisten wurde während der Pressekonferenz in Düsseldorf erklärt, worauf die auffällige Zunahme bei den Verstößen gegen das Versammlungsgesetz im PMK-Bereich „nicht zuzuordnen“ zurückgeht. Jener Anstieg steht im Zusammenhang mit den Anfang 2022 massiv expandierenden illegalen „Spaziergängen“. 2021 registrierte der NRW-Verfassungsschutz bei den Verstößen gegen das Versammlungsgesetz im PMK-Phänomen „nicht zuzuordnen“ 287 Straftaten, 2022 waren es 2.130. Auch wenn die „Freien Nordrhein-Westfalen“ namentlich nicht im Jahresrückblick der Landesbehörde genannt werden – ihre Propaganda, Mobilisierungs- und Netzwerkarbeit hat deutliche Spuren in der PMK hinterlassen.

„Ausländische Ideologie“ und deutsche Täter

Eine Erhöhung bei den politischen Straftaten hat aber auch das rechtsoffene bis rechtsextreme Querfront-Spektrum in einem anderen Bereich mit bewirkt. Allerdings lässt das PMK-Phänomen „ausländische Ideologie“ dies zunächst nicht vermuten. Denn in den letzten Jahren wurden hier überwiegend Straftaten registriert, die etwa Tätern aus dem Umfeld ausländischer Exilorganisationen wie der PKK oder den „Grauen Wölfe“ zugerechnet oder nachgewiesen wurden. Ein starker Anstieg in NRW im Jahre 2022 in diesem PMK-Bereich hängt nun jedoch laut Landesverfassungsschutz mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zusammen.

Es geht dabei um Taten wie Billigung oder Glorifizierung eines völkerrechtswidrigen Krieges oder um Sachbeschädigung und Propagandadelikte. Der überwiegende Teil jener Straftaten hatte einen prorussischen Hintergrund. Die Taten richteten sich laut NRW-Verfassungsschutz zum einen gegen in Deutschland lebende Ukrainer und ukrainische Geflüchtete. Ziel von Angriffen und Drohungen waren zum anderen etwa auch Hilfseinrichtungen und Organisationen, die gegenüber Ukrainern oder dem Land sichtbar solidarisch auftraten oder Geflüchteten halfen.

Russischer Angriffskrieg in Deutschland

Die Angaben aus NRW decken sich mit jenen aus dem Bundeskriminalamt (BKA). Die „Neue Osnabrücker Zeitung“ (NOZ) berichtete Anfang April, dass das BKA seit Beginn des russischen Angriffskriegs – also binnen eines Jahres – rund 6.000 Straftaten mit Bezug zum Ukraine-Krieg in Deutschland registriert hat. „In den ersten beiden Kriegswochen hätte sich ein Großteil dieser Taten gegen Russland gerichtet. Doch in den vergangenen Monaten würden die Straftaten mit einer ‚anti-ukrainischen Intention‘ überwiegen, heißt es vom BKA […] weiter“, meldete die NOZ.

Als Täter und Verdächtige registrierte der NRW-Verfassungsschutzbericht 2022 bei der PMK „ausländische Ideologie“ zum einen Menschen mit russischer Migrationsgeschichte. Zum anderen benennt er aber auch als Täter und Verdächtige einheimische Unterstützer. An anderer Stelle wird in dem Bericht darauf hingewiesen, dass 2022 jene Unterstützer der russischen Kriegspropaganda und Desinformationskampagnen politisch im Bereich der Querfront zu verorten seien. Gemeint sind damit auch Rechtsextreme, Querdenker, „Delegitimierer“ und Reichsbürger. Bemerkenswert sei es, dass etwa die Szene der Reichsbürger fast ausschließlich Positionen der russischen Regierung vertrete, heißt es in dem fast 400 Seiten starken Bericht zudem.

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