Antisemitismus

„Nicht nur die Zahl, sondern auch die Qualität der Vorfälle hat sich verdichtet“

In Dresden eröffnete kürzlich die Fachberatungsstelle OFEK einen neuen Standort, Betroffene antisemitischer Vorfälle und Gewalttaten haben so nun auch in Sachsen eine Anlaufstelle. Im Interview weist die Organisation auf eine seit Jahren konstante Zunahme der Fallzahlen in dem Freitstaat hin und gibt einen Einblick in ihre Arbeit.

Dienstag, 05. Juli 2022
Florian Schäfer
Ein antisemitischer Schriftzug - und die Reaktion darauf. (Symbolfoto) Foto: mkorsakov, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0
Ein antisemitischer Schriftzug - und die Reaktion darauf. (Symbolfoto) Foto: mkorsakov, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

Wie kam es zur Gründung der neuen Melde- und Beratungsstelle? Gab es einen konkreten Anlass?

Die Melde- und Beratungsstelle mit dem Schwerpunkt Antisemitismus und Sitz in Dresden ist ein weiterer regionaler Standort der Beratungsstelle OFEK e.V. Die Bedrohung durch gegenwärtigen Antisemitismus wird immer sichtbarer, so auch in Sachsen. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der Bundesverband RIAS und die Betroffenen weisen seit Jahren darauf hin. Mit der Häufung antisemitischer Gewalt steigt auch Beratungsbedarf. Erst 2019-2024 wurde diesem Bedarf mit der Einrichtung einer „Einrichtung einer niedrigschwelligen Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus und psychosozialer Beratungsstellen für Betroffene“ entsprochen.

Antisemitismus äußert sich nicht nur in schwerer und offener Gewalt, sondern auch in verbalen Diffamierungen oder gezielter Sachbeschädigung. Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung nimmt Antisemitismus als ein großes (und wachsendes) Problem wahr. Dieses Problem muss aber nicht stillschweigend hingenommen werden. Aus diesem Grund bewarben wir uns 2021 im Rahmen eines öffentlichen Verfahrens des Kultusministeriums Sachsens um die Trägerschaft der Melde- und Beratungsstelle Antisemitismus und haben im Januar 2022 mit dem Aufbau begonnen.

In welcher Trägerschaft befindet sich die neue Einrichtung? Wie sieht die Struktur dahinter aus?

OFEK e.V. ist die erste Fachberatungsstelle in Deutschland, die auf Antisemitismus spezialisiert ist. Das Beratungsteam konsultiert, begleitet und unterstützt Betroffene, ihre Angehörigen sowie Zeug:innen antisemitischer Vorfälle und Gewalttaten. OFEK bietet Einzelfallberatung, Gruppenangebote, eine bundesweite Hotline sowie regionale Unterstützung in Berlin, Hessen, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und nun auch in Sachsen an. Neben den regionalen Standorten der Beratung trägt OFEK in Sachsen und in Sachsen-Anhalt zwei regionale Meldestellen. Diese arbeiten nach den Standards des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS), erfassen und dokumentieren antisemitische Vorfälle.

Wo genau verorten Sie ihren Aufgabenbereich?

Antisemitische Vorfälle sind keine Einzelfälle, die im luftleeren, ahistorischen Raum passieren, vielmehr nehmen die Betroffenen es als Grundrauschen wahr, das sie buchstäblich umgibt. Antisemitismus zeigt sich in offener Gewalt, aber es gibt auch subtilere Formen. OFEK steht parteilich an der Seite der Ratsuchenden und sieht seine Aufgabe auch darin, jüdische Perspektiven in die gesellschaftliche sowie politische Debatte einzubringen. Unsere Beratung orientiert sich an den fachspezifischen Qualitätsstandards professioneller Opferberatung und bezieht sich auf alle Fälle mit sowie ohne Straftatbestand.

Uns geht es in Sachsen einerseits darum die Ratsuchenden bei der Bewältigung der materiellen und immateriellen Folgen antisemitischer Vorfälle zu unterstützen und anderseits die antisemitischen Vorfälle aufzudecken, zu erfassen und zu analysieren. Dabei legen wir viel Wert auf die rechtliche und psychologische Beratung, auf die Ermächtigungsarbeit und Ressourcenorientierung. Wir handeln stets im Auftrag der Betroffenen und unabhängig davon, ob das Erlebte den Straftatbestand erfüllt. Andererseits ermöglicht uns die Meldestelle, der hiesigen Gesellschaft vor Augen zu führen, dass Antisemitismus eine hohe Gegenwartsrelevanz besitzt und sich in ihrer Mitte ereignet.

Welche konkreten Hilfestellungen können von antisemitischer Diskriminierung Betroffene von Ihrer Seite erwarten?

Wir beraten Einzelpersonen, ihre Familien und Angehörigen sowie Zeug*innen bei antisemitischer Gewalt oder Diskriminierung in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, im persönlichen Umfeld oder in Behörden. Unser Angebot umfasst Beratung und psychosoziale Unterstützung im Zuge antisemitischer Gewalt und Diskriminierung, stärkende Gruppenberatung und Empowerment, Beratung zu rechtlichen Möglichkeiten im Umgang mit Antisemitismus und Diskriminierung, eine Vermittlung weiterführender Beratung (z. B. Antidiskriminierungsberatung oder spezialisierte psychologische Angebote) sowie Fachberatung für jüdische Gemeinden, Schulen, Behörden sowie andere ratsuchende Einrichtungen. Die Beratung von Jugendlichen und Familien sowie Studierenden im Zuge von Vorfällen in der Schule und im Studium stellt einen wichtigen Schwerpunkt unserer Arbeit dar. Alle Beratungsangebote können auf Deutsch, Hebräisch, Russisch und Englisch in Anspruch genommen werden und erfolgen vertraulich, kostenfrei, mehrsprachig und auf Wunsch anonym.

Oft wird Antisemitismus in der Öffentlichkeit unterkomplex behandelt und z.B. lediglich als eine Spielart von Rassismus wahrgenommen. Was ist Ihr Verständnis von Antisemitismus?

Wir haben ein systemisches und prozessuales Verständnis von Antisemitismus. Das bedeutet, dass alle Formen des Antisemitismus gleichermaßen zählen und Antisemitismus sich auf der individuellen, kulturellen und institutionellen Ebene manifestiert. Mehr noch: Antisemitismus bedeutet schwere und subtilere Gewalt. Antisemitismus ist ein Weltbild hat mehr mit den Bedürfnissen der nicht jüdischen Gesellschaft zu tun, als mit einer ursächlichen Verknüpfung mit jüdischen Lebensrealitäten Dabei sind die Vorfälle die Spitze des Eisbergs, sie stützen sich auf strukturelle Formen der antisemitischen Voreingenommenheit, Ideologie und Gewalt, die mit der Zeit an ihrer Relevanz nicht verloren haben. Wir sind davon überzeugt, dass die Perspektiven von Betroffenen ihren festen Platz haben müssen sowohl in dem Diskurs als auch in der Beratung.

Wie beurteilen Sie die Lage in Sachsen?

Seit 2017 lässt sich eine konstante Zunahme von antisemitischen Vorfällen in Sachsen feststellen. Insgesamt wurden 2021 125 antisemitische Vorfälle durch den Bundesverband RIAS e.V. erfasst. 2020 waren es noch 70 gewesen. Von 2014 bis 2019 konnte der RIAS Bundesverband 712 antisemitische Vorfälle für Sachsen auswerten. Gleichwohl müssen wir zunächst von einem großen Dunkelfeld ausgehen. Seit einigen Jahren sind antisemitische Vorfälle ausgehend vom rechtsextremen Milieu, z.B. durch Pegida oder im Rahmen der jährlichen Gedenkmärsche zur Bombardierung Dresdens, in der Region bekannt. Nicht nur die Zahl, sondern auch die Qualität der Vorfälle hat sich, u.a. mit den Coronaprotesten, verändert und verdichtet. Der rechtsextreme und antisemitische Anschlag von Halle an Jom Kippur 2019 hat zudem generell für die deutsch-jüdische Community eine Zäsur hinsichtlich des eigenen Sicherheitsgefühls bedeutet, die auch nicht zuletzt die geografisch nahen sächsischen Gemeinden miteinschließt.

Wie stellen sich die durch die Pandemie hervorgerufenen Äußerungen antisemitisch-verschwörungsideologischer Denkmuster in Sachsen dar?

Bundesweit haben während der Coronaproteste Verschwörungstheorien und somit der moderne Antisemitismus stark zugenommen. Obwohl uns aufgrund des bisherigen Mangels einer eigenen Meldestelle für Sachsen seit 2020 keine analysierten Zahlen vorliegen, legen auch die nackten Zahlen der RIAS-Bundesgemeinschaft über Sachsen sowie der Umstand, dass in Dresden, Chemnitz und kleineren Städten derartige Proteste stattfanden und diese vor allem in Leipzig immer wieder sehr große Ausmaße annahmen, nahe, dass auch in Sachsen der moderne Antisemitismus gestiegen ist. Verschwörungsmythen spielten jedoch 2021 eine geringere Rolle als noch zu Beginn der Pandemie 2020. Wichtiger wurden hingegen bestimmte Formen der Selbstviktimisierung: Gegner der Corona-Maßnahmen inszenierten sich selbst als verfolgte Jüdinnen und Juden, beispielsweise indem sie bei Demonstrationen einen sogenannten Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ trugen. Das ist eine Form der antisemitischen Schuldabwehr und Schoa-Relativierung und nicht verschwörungstheoretischer Antisemitismus. Da diese Entwicklungen in Deutschland insgesamt zu beobachten waren und vor allem den Coronaprotesten in den großen Städten wie Leipzig zivilgesellschaftlich immer wieder sehr viel entgegengesetzt wurde, wäre es unredlich, in dieser Hinsicht Sachsen als ein Spezifikum zu sehen.

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