Landgericht Chemnitz

Neonazi-Ausschreitungen: Freisprüche für die Angeklagten

Fast sieben Jahre nach den gewalttätigen Übergriffen in Chemnitz hat das Landgericht das Urteil gegen die vier Angeklagten gesprochen. Die jungen Männer – damals zwischen 17 und 20 Jahre alt – waren Teil einer organisierten Neonazi-Gruppe, die gezielt Jagd auf politische Gegner*innen machte. Doch für sie gibt es keine Konsequenzen – die Angeklagten gehen straflos aus. 

Donnerstag, 28. August 2025
Anna-Louise Lang
Teilnehmer der Demonstration im September 2018 in Chemnitz, Foto: Symbolbild
Teilnehmer der Demonstration im September 2018 in Chemnitz, Foto: Symbolbild

Die Vorwürfe waren schwerwiegend: Am 1. September 2018 attackierte eine Gruppe von etwa einem Dutzend Neonazis Teilnehmer*innen einer Gegendemonstration nach dem extrem rechten „Trauermarsch“. Laut Anklage prügelten, traten und demütigten die Täter ihre Opfer koordiniert. Die Angreifergruppe bestand aus mehreren kleinen Gruppen aus Sachsen und anderen Bundesländern. Eine Ermittlerin erklärte, dass sie teils organisiert, teils lose zusammengeschlossen war.   

Die Richterin erklärte am Mittwoch, es habe zwar massive Angriffe gegeben, diese seien aber den Angeklagten nicht eindeutig zuzuordnen, zudem fehle die „notwendige Masse“ für Landfriedensbruch. Die Kosten trägt die Staatskasse. Zwar ordnete die Richterin dem bekannten Neonazi und Kampfsportler Lasse R. eine besonders aggressive Rolle zu, auch Beleidigungen und sexistische Bedrohungen bestätigte sie – diese hätten aber keine rechtlichen Folgen.

Lange Verfahrensdauer

Die Staatsanwaltschaft hatte hingegen Verurteilungen aller vier Angeklagten gefordert, mit den Folgen entweder einer Verwarnung oder 50 bis 100 Arbeitsstunden. In seinem Plädoyer verwies der Staatsanwalt zudem auf die aufgeladene emotionale Situation im Jahr 2018, die berücksichtigt werden müsse. Alle Verteidiger*innen verlangten Freisprüche, bezeichneten Betroffene abwertend als „Berufsdemonstranten“ und stellten deren Glaubwürdigkeit infrage. 
Ein Grund für das Ergebnis ist die extrem lange Verfahrensdauer: Selbst Polizeizeug*innen erinnerten sich kaum mehr an die Ermittlungen, die bereits Jahre zurücklagen. Viele Aussagen blieben vage oder widersprüchlich, auch weil die Größe der Angreifergruppe je nach Perspektive unterschiedlich wahrgenommen wurde.

Dennoch existieren Video- und Bildaufnahmen vom ersten Tatort, die von der Polizei ausgewertet wurden und eine Identifizierung aller vier Angeklagten ermöglichten. Auch ehemalige Mitangeklagte bestätigten in ihren Aussagen die Abläufe. So berichtete etwa Marcel W., der bis zu einer Einstellung nach Paragraph 153a der Strafprozessordnung Teil des Verfahrens war, dass er rund ein Dutzend Neonazis durch die Stadt geführt habe. Während er dies als „ziellos“ darstellte, wurde deutlich, dass die Gruppe gezielt nach „Antifa-Leuten“ suchte, um diese anzugreifen. Frühere Mitangeklagte gaben vor Gericht jedoch häufig an, sich nicht mehr an die Tat zu erinnern oder lieferten widersprüchliche Aussagen. Aus den Aussagen ehemaliger Angeklagter ging allerdings hervor, dass es teilweise organisierte Anreisen nach Chemnitz gab: So fuhren einige mit einem Bus der Partei „Die Rechte“ aus Dortmund gemeinsam an.

Faustschläge, Beleidigungen, Drohungen

Im Mittelpunkt des Verfahrens standen vor allem Marvin C. und Lasse R. Zeug*innen berichteten, dass C. oder eine ihm sehr ähnliche Person einen Mann mit einem Faustschlag verletzte und dessen Brille zerstörte – ein Angriff, der sich später als Versehen innerhalb der rechten Gruppe herausstellte. Obwohl mehrere Aussagen sowie Videoaufnahmen auf C. hindeuteten, konnte die Tat letztlich nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Eine Entschädigungszahlung von 30 Euro für die zerstörte Brille wurde vom Verletzten angenommen, ohne Schuldeingeständnis von Marvin C.

R. beschrieben mehrere Zeug*innen als tonangebend und besonders aggressiv. Ihm wurden Bedrohungen mit einem Schlagwerkzeug, das Entreißen von Schildern und Fahnen, sexualisierte Beleidigungen sowie rechte Parolen zugeschrieben. Besonders eindrücklich schilderten mehrere Zeug*innen unabhängig voneinander seine Drohung: „Ihr könnt froh sein, dass ihr alle Fotzen seid, sonst würden wir euch behindert schlagen.“ Mindestens die Beleidigung als „Fotzen“ und  eine sexistische Bedrohung gegen eine Betroffene, die er im Nachgang noch versuchte zu küssen, sah die Richterin bestätigt und ordnete sie Lasse R. zu. Aufgrund rechtlicher Hürden könne dies aber nicht geahndet werden. Auch im Gerichtssaal fiel R. durch verspätetes Erscheinen, Handy-Nutzung und laute Beschwerden auf, was zu Verwarnungen durch die Richterin führte.

Im Verlauf des Prozesses erschienen zwei sächsische Neonazis, Lucas „Chino“ Seifert und Tom R., als Besucher im Gerichtssaal, um ihre Solidarität mit den Angeklagten zu zeigen. Sie mussten den Saal jedoch kurzzeitig verlassen, um auf ihren Shirts sichtbare neonazistische Symbolik zu verdecken.  

Opfer berichten von Angst und Traumatisierung

Zeug*innen berichteten von massiver Angst und anhaltenden Folgen der Angriffe. Ein heute 73-Jähriger sprach von Ohnmacht und beschrieb den Angriff als „eines der schlimmsten Ereignisse meines Lebens“. Ein weiterer Betroffener sprach von einem „Trauma“, das ihn bis heute in ähnlichen Situationen einholt, und kritisierte die lange Verfahrensdauer sowie die fehlenden Konsequenzen für die Täter. Diese Belastungen standen im starken Kontrast zur Gleichgültigkeit der Angeklagten: Während die Opfer detailliert von Bedrohungen, Gewalt und sexualisierten Beleidigungen erzählten, zeigten sich die Beschuldigten oft desinteressiert. 

Das Verfahren ist Teil eines langwierigen juristischen Prozesses: Insgesamt waren 27 Tatverdächtige ermittelt worden. Vorangegangene Prozesse führten zu Einstellungen gegen Geldauflage, andere Angeklagte entzogen sich dem Verfahren durch Aufenthalte in Kliniken oder die Flucht ins Ausland. Schon Anfang September startet ein dritter Prozess gegen zwei weitere Angeklagte. 

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