Idar-Oberstein

Mordprozess gegen Corona-Leugner: Umfassendes rechtes Weltbild

Im September 2021 erschoss Mario N. in Idar-Oberstein den Tankstellenkassierer Alexander W., weil der auf der Einhaltung der Maskenpflicht bestanden hatte. Bis heute gilt die Tat nicht als rechte Gewalt. Der Mordprozess vor dem Landgericht Bad Kreuznach führt immer wieder vor, wie grotesk diese Fehleinschätzung ist.

Montag, 18. Juli 2022
Joachim F. Tornau
Der Prozess bietet einen Einblick ist das Weltbild von Mario N., das geprägt ist von Verschwörungsmythen und Hass auf "die da oben". Foto: Joachim F. Tornau
Der Prozess bietet einen Einblick ist das Weltbild von Mario N., das geprägt ist von Verschwörungsmythen und Hass auf "die da oben". Foto: Joachim F. Tornau

Das Video der Überwachungskamera zeigt einen Mann, der genau weiß, was er tut. Geduldig stellt er sich in die Schlange vor der Kasse, ganz coronakonform trägt er eine Schutzmaske. Erst als er an der Reihe ist, zieht er die Maske herunter, grinst den Kassierer provozierend an. „Maske hoch“, sagt der. „Echt?“, fragt der Mann. „Ja, echt“, antwortet der Tankstellenbeschäftigte. Da zückt der Mann einen Revolver und schießt dem Verkäufer mitten ins Gesicht. Danach spaziert er aus dem Verkaufsraum, ganz ruhig und entspannt. Sein Opfer, der 20 Jahre alte Alexander W., ist sofort tot.

Was am 18. September 2021 in einer Tankstelle im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein geschah, wirkt wie eine kaltblütige Hinrichtung. Und das sollte es auch sein. Mario N., der Todesschütze, wollte sich rächen, weil ihm Alexander W. anderthalb Stunden zuvor ohne Maske kein Bier hatte verkaufen wollen. Aber er wollte nicht nur das.

Tankstellenmitarbeiter war „Repräsentant einer verhassten Außenwelt“

„Ich musste ein Zeichen setzen“, hat Mario N. gesagt. Ein Zeichen gegen die Maskenpflicht, die der 50-Jährige vehement ablehnte. Gegen die Corona-Politik, von der sich der selbstständige Softwareentwickler unterjocht fühlte. Aber wohl auch: gegen das politische System insgesamt, für das der AfD-Anhänger aus Idar-Obersten nur noch Hass und Verachtung übrig hatte, und das nicht erst seit Beginn der Pandemie.

Eine Psychologin des Landeskriminalamts formulierte es beim Mordprozess vor dem Landgericht in Bad Kreuznach so: Alexander W., der junge Mann, der in der Tankstelle jobbte und auf der Einhaltung der Maskenpflicht bestand, musste sterben, weil er für seinen Mörder „der Repräsentant einer verhassten Außenwelt“ war. Die Staatsanwaltschaft hat Mario N. wegen heimtückischen Mordes aus niederen Beweggründen angeklagt, ihn erwartet lebenslange Haft. Sollte das Gericht zudem die besondere Schwere der Schuld feststellen, wäre auch eine Entlassung nach 15 Jahren so gut wie ausgeschlossen.

Befangenheitsantrag gegen psychiatrischen Sachverständigen

Die Verteidigung dagegen versucht, die Tat als Affekthandlung unter Alkoholeinfluss darzustellen. Das wäre dann nur Totschlag. Entsprechend hart sind die Bandagen, mit denen in den nunmehr vier Prozessmonaten gekämpft wird: Fast an jedem Verhandlungstag dauert es nur wenige Minuten, bis sich die Verteidiger mit Gericht und Staatsanwaltschaft in neuen Scharmützeln verhaken. Am Montag hätten eigentlich die Plädoyers beginnen sollen. Doch dazu kam es nicht, weil Rechtsanwalt Alexander Klein einen Befangenheitsantrag gegen den psychiatrischen Sachverständigen stellte, der den Angeklagten am vorangegangenen Prozesstag als uneingeschränkt schuldfähig eingestuft hatte.

Psychiater Ralf Werner hatte erklärt, dass Mario N., der bei seiner Bluttat um die zwei Promille Alkohol im Blut hatte und doch so bemerkenswert kontrolliert auftrat, ans Trinken gewöhnt sein müsse. Und er wollte auch aus der vom Angeklagten behaupteten „Zermürbung“ durch die Corona-Maßnahmen keinen psychischen Ausnahmezustand ableiten. „Voreingenommen“ sei das, grollte der Anwalt.

Tat sei politisch „nicht zuzuordnen“

Mario N. hat sich vor Gericht reuig gezeigt. Hat gesagt, dass er sich schämt für seine Tat. Hat eingeräumt, sich während der Pandemie in einem Netz aus Desinformation und Online-Hetze verfangen zu haben. Zugleich warb er um Verständnis: Als IT-Unternehmer habe er Umsatzeinbußen hinnehmen müssen (er weigerte sich aber trotzdem aus ideologischen Gründen, an der Entwicklung der Corona-Warnapp mitzuarbeiten). Als Asthmatiker sei ihm das Maskentragen schwergefallen (für die von ihm geltend gemachte Luftröhrenverengung konnte ein vom Gericht geladener HNO-Spezialist allerdings keinerlei Hinweise finden). Noch heute macht Mario N. die Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung dafür verantwortlich, dass sein schwerkranker Vater sich wenige Tage nach den ersten Kontaktbeschränkungen im März 2020, offenbar halluzinierend, selbst erschossen hat.

Der mutmaßliche Mord von Idar-Oberstein ist eine von 9.201 Straftaten, die die Polizei im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zählte. Doch wie die allermeisten Delikte aus dem Milieu der „Querdenker“ und Corona-Leugner:innen wurde die Tat dabei nicht als rechts motiviert verbucht, sondern als politisch „nicht zuzuordnen“. Eine groteske Fehleinschätzung, das hat der Prozess gegen Mario N. immer wieder vorgeführt.

Trump-Jünger

Zeugen berichteten über Gespräche, die sie mit dem Angeklagten geführt hatten, Chats wurden verlesen und vor allem: unzählige Videonachrichten übersetzt, die Mario N. mit seinem Schwager in den USA ausgetauscht hat, einem Polizisten und waffenstarrenden Anhänger von Donald Trump. Die beiden Männer teilten ein Weltbild, in dem Geflüchtete „Gesindel“, der Klimawandel ein „Schwindel“ und die Medien „Fake“ seien. Und sie waren sich einig, von wem allein die Rettung kommen könnte: „Wenn Trump wiedergewählt wird“, teilte Mario N. seinem Schwager mit, „überlege ich wirklich, in die USA zu ziehen.“ 2019 war das, lange vor Corona.

Deutlich wurde: Die Pandemie hat die Radikalisierung dieses gut ausgebildeten Mannes aus der viel beschworenen Mitte der Gesellschaft nicht ausgelöst, sie hat sie nur noch einmal verstärkt. Schon als Maskenpflicht und Lockdowns noch nicht einmal am Horizont zu erkennen waren, äußerte Mario N. Revolutionsfantasien. Im Februar 2020 schrieb er einem Bekannten: „Ich weiß, es klingt doof, aber ich sehe keine Lösung mehr, in der keine Gewalt vorkommt.“ Und: „Man muss halt schauen, wie man sich bewaffnet, ohne Aufsehen zu erregen.“ Er stehe der Flüchtlingspolitik seit 2015 „sehr kritisch“ gegenüber, hat Mario N. im Prozess einmal erklärt. Ob sich seine Chatnachrichten darauf bezogen, sagte er aber nicht.

Feinbilder: George Soros und Rothschilds

Corona hielt Mario N. für einen „Staatsstreich“. Jetzt brachen bei ihm alle Dämme, nicht nur, wenn es um die Pandemie-Politik ging. Er wollte „die Verantwortlichen“ – zu denen er neben Angela Merkel oder Jens Spahn auch den jüdischen US-Milliardär George Soros oder „die Rothschilds“ zählte – an Straßenlaternen aufgeknüpft sehen oder ihnen persönlich die Kehle durchschneiden. Er träumte davon, Napalm gegen „Fridays for Future“-Demos einzusetzen, und wünschte sich Gaskammern zurück, für Politiker*innen und für Migrant*innen. Und noch als er sich am Morgen nach der Tat der Polizei stellte, bekannte er freimütig: „Wenn ich hundert Männer mit Eiern zusammenkriege, würde ich eine Armee gründen und die Verantwortlichen ausschalten.“

Über den Befangenheitsantrag gegen den Psychiater hat das Gericht noch nicht entschieden. Im August wird weiterverhandelt.

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