Militante Szenen in Deutschland
Verfassungsschutz warnt vor weiterem Rechtsterrorismus und sieht Bedrohung durch islamistischen Terrorismus – Spektrum an gewaltbereiten Rechtsextremisten ist angestiegen.
Ein Novum in der Geschichte des Verfassungsschutzes: Erstmals bei der Vorstellung des Jahresberichts muss ein Bundesinnenminister ein Versagen der Behörde und einen erheblichen Vertrauensverlust in deren Arbeit einräumen. Als größten Misserfolg des Verfassungsschutzes hat Minister Hans-Peter Friedrich das Nichtentdecken des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), der über 12 Jahre Morde, Attentate und Banküberfälle verübt hat, bezeichnet.
Hieß es im Vorjahresbericht noch lapidar „auch 2010 waren in Deutschland keine rechtsterroristischen Strukturen feststellbar“, so wird heute immerhin vor weiterem Rechtsterrorismus gewarnt. Heinz Fromm, der scheidende Präsident des Bundesverfassungsschutzes, schließt nicht aus, dass selbstradikalisierte Einzeltäter oder Kleinstgruppen sich die Taten des NSU zum Vorbild nehmen. Auch die Affinität von Rechtsextremisten zu Waffen und Sprengstoff wird als „latentes Gefährdungspotenzial“ bezeichnet. Bundesinnenminister Friedrich gibt zu, dass sieben untergetauchte gewaltbereite Rechtsextremisten beim Verfassungsschutz und der Polizei auf der Fahndungsliste stehen würden.
Gefahr durch individuellen Dschihad
Bei der Vorstellung des Jahrsberichts für 2011 am Mittwoch in Berlin bezeichnet Fromm den islamistischen Terrorismus aber nach wie vor als größte Gefahr. Das Spektrum islamistischer Terrorstrukturen in Deutschland reiche von Netzwerken gewaltbereiter Islamisten, die in enger Beziehung zu Organisationen im Ausland stünden, über autonome Kleinstgruppen bis zu Einzeltätern, wird festgehalten. Die Gefahr gehe insbesondere durch unstrukturierte dschihadistische Bestrebungen (individueller Dschihad) aus, die hier selbständig Anschläge planten, so der Verfassungsschutzpräsident.
Ein weiteres Phänomen stellt Fromm zufolge die Strömung der so genannten Salafisten dar, denen sich etwa zehn Prozent des auf über 38 000 Personen bezifferten Potenzials im islamistischen Spektrum verbunden fühlten. Diese Form des Islamismus übe insbesondere auf junge Leute Anziehungskraft aus, wird festgehalten. Laut Fromm sei diese Strömung aber bis zum Mai dieses Jahres in Bonn, als es bei Protesten gegen eine Kundgebung der islamfeindlichen „Pro-Bewegung“ zu Ausschreitungen und Gewalttaten von Salafisten gegenüber Polizeibeamten kam, nicht durch Straßengewalt aufgefallen.
Das linksextreme Personenpotenzials weist dem Verfassungsschutzbericht zufolge einen leichten Rückgang auf 32 100 Anhänger (minus 500) auf. Um rund 20 Prozent haben sich die aus diesem Spektrum begangenen Gewalttaten, vielfach gegen den politischen Gegner gerichtet, erhöht, so Bundesinnenminister Friedrich, der vor einer sich ausbreitenden Gewaltbereitschaft warnt.
Aktionsorientiertheit der „Autonomen Nationalisten“
Die Anzahl der gewaltbereiten Rechten ist dem Verfassungsschutz zufolge auf 9800 Personen (plus 300) angestiegen, damit müssen mittlerweile rund 43,5 Prozent des rechtsextremen Gesamtpotenzials dem militanten Spektrum zugerechnet werden. Deutlich rückläufig mit 7600 Personen (minus 700) ist demnach das subkulturelle rechte Milieu. Fortgesetzt hat sich somit ein in der Szene seit Jahren zu beobachtender Trend weg von der Skinhead-Subkultur hin zu den stärker politisch organisierten Strukturen der Neonazi-Szene. Von den 6000 Neonazis (plus 400) gehören rund 15 Prozent den militanten „Autonomen Nationalisten“ an, die wegen ihrer Aktionsorientiertheit und erhöhten Gewaltbereitschaft eine besondere Anziehungskraft auf junge Neonazis ausübten, heißt es in dem aktuellen Bericht.
Die Zahl der rechtsextrem motivierten Straf- und Gewalttaten bewegte sich im Berichtszeitraum in etwa auf dem Niveau des Vorjahres. Unter den 755 Gewalttaten (2010: 762) wurden 640 Fälle von Körperverletzung, fünf versuchte Tötungsdelikte sowie 20 Brandstiftungen registriert. In Relation zur Einwohnerzahl haben im Jahr 2011 rechtsextreme Gewalttäter wiederum in Sachsen-Anhalt am häufigsten zugeschlagen, gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen. Das Bundesland Brandenburg, das im Vorjahr noch Platz 2 dieser gruseligen Länderstatistik belegte, steht jetzt an fünfter Stelle, an sechster dann Berlin, das einen erheblichen Anstieg an rechter Gewalt zu verzeichnen hatte.
Die scientologische Gesellschaft als Fernziel
Größte Partei im rechtsextremen Spektrum bleibt mit 6300 Mitgliedern die NPD, die aber wieder 300 Mitstreiter verloren hat. Die im Berichtszeitraum noch erfassten 1000 restlichen Anhänger der inzwischen endgültig aufgelösten DVU dürften sich zum Teil auch rechtspopulistischen Formationen zugewandt haben.
Last not least findet sich in dem 368 starken Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministeriums auch ein Kapitel über die rechte Politsekte „Scientology“, der in Deutschland 4000 bis 5000 Personen zugerechnet werden. Die Scientology-Organisation lehne das demokratische Rechtssystem ab und wolle es langfristig durch einen eigenen – überlegenen – Gesetzeskodex ersetzen. Ihr Fernziel sei eine scientologische Gesellschaft, halten die Verfassungsschützer fest.