Klima der Gewalt in der Hauptstadt
In Berlin sind 2019 rund 500 Personen bei rechten, rassistischen und antisemitischen Angriffen verletzt und bedroht worden. Das geht aus der Statistik für das vergangene Jahr hervor, die die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt jetzt vorgelegt hat.
Die Zahlen, die ReachOut, die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, präsentiert, sind höchst alarmierend. Mit insgesamt 390 Taten fand 2019 durchschnittlich an jedem Tag mindestens ein rechter, rassistischer und antisemitischer Angriff in der Hauptstadt statt, mehr als die Hälfte der Taten sind rassistisch motiviert. Das entspricht einem Anstieg um mehr als einem Viertel gegenüber 2018. Für ReachOut sind es die höchsten Angriffszahlen seit der Gründung des Projektes vor knapp 20 Jahren.
„Enttabuisierung und Enthemmung“
Die aktuellen Zahlen sind drei Mal so hoch wie noch 2010. Knapp zwei Drittel der registrierten Angriffe fanden 2019 auf Straßen und Plätzen sowie an Haltestellen, Bahnhöfen und in öffentlichen Verkehrsmitteln statt. Mindestens 509 Personen wurden im vergangenen Jahr in Berlin verletzt, gejagt und massiv bedroht, darunter sind 63 Kinder und Jugendliche. Zudem mussten 14 Kinder miterleben, wie ihre Eltern oder Freunde geschlagen, bespuckt und gedemütigt wurden. Bei knapp zwei Dritteln der Angriffe handelte es sich um Körperverletzungen, bei rund einem Drittel waren es gefährliche Körperverletzungen und massive Bedrohungen. Außerdem dokumentierte ReachOut zwei versuchte Tötungen. Dabei handelt es sich um einen rassistischen Überfall mit Schüssen und einen Angriff auf einen obdachlosen 51-Jährigen.
Regional betrachtet fanden mit knapp 100 Attacken die meisten Angriffe im Berliner Bezirk Mitte statt, es folgen Neukölln, Schöneberg und Kreuzberg. In den drei letztgenannten Bezirken beziehungsweise Stadtteilen ist besonders die Zahl der Gewalttaten gegen die sexuelle Identität oder Orientierung der Betroffenen im Vergleich zum restlichen Berlin sehr hoch. Einen starken Anstieg verzeichnet ReachOut bei Taten im direkten Wohnumfeld, dem Arbeitsplatz, in Kneipen, Supermärkten, bei Sport- und Freizeitveranstaltungen oder auch in Bildungsstätten. Sabine Seyb von der Berliner Beratungsstelle, spricht von einer „Enttabuisierung und Enthemmung bezüglich der Gewalt gegen ausgegrenzte und diskriminierte Bevölkerungsgruppen“. Die Zunahme der Angriffe an Orten, die nicht dem öffentlichen Raum zugerechnet werden können, sei besorgniserregend, „weil sich die Betroffenen dort bis dahin relativ sicher gefühlt haben“. Obwohl die Täter an diesen Orten leichter zu identifizieren seien als beispielsweise auf der Straße oder an einer Haltestelle, gingen sie davon aus, „mit ihrer Meinung und ihrem Handeln akzeptiert und sicher zu sein.", so Seyb.
„Öffentlich geführte rassistische Debatten stoppen“
Zur täglichen rassistischen Gewalt auf den Straßen trügen auch institutioneller Rassismus und die daraus resultierenden Handlungen bei, kommentiert Seyb, denn die Täter fühlten sich in ihrem Handeln bestärkt und ermutigt. Deshalb müssten „die öffentlich geführten rassistischen Debatten und der institutionelle Rassismus vor allem in den Ermittlungsbehörden, der Justiz und in den Bildungseinrichtungen benannt und gestoppt werden“, fordert ReachOut und verweist auf die Shisha-Bars als Anschlagsorte des Attentäters von Hanau. „Durch die Art und Weise wie Razzien in Shisha-Bars, beispielsweise in Neukölln, durchgeführt werden, entstehen Bilder einer Gefahr, die zutiefst rassistisch sind. Die Folge ist, dass ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht geraten und der antimuslimische Rassismus weiter geschürt wird.“
Für Berlin fordert die Beratungsstelle eine Enquête-Kommission gegen Rassismus unter Einbeziehung der Betroffenen sowie ihrer Projekte und Vereine entwickelt werden. Außerdem fehle in der Hauptstadt noch immer eine Ansprechperson für Personen, die von rassistischen Straftaten betroffen seien. Angesichts der neonazistischen Anschlagsserie im Berliner Bezirk Neukölln fordert ReachOut einen Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus. „Dies wäre eine Chance, Transparenz in die Arbeit der Behörden zu bringen und die bisherigen Ermittlungen auf den Prüfstand zu stellen und kritisch zu hinterfragen.“, so Seyb.