Jeden Tag fünf rechte Angriffe

Rechte Gewalt in Deutschland bewegte sich auch 2019 weiterhin auf einem hohen Niveau. Beratungsstellen und Wissenschaftler befürchten neue rechtsterroristische Radikalisierungsschübe in der Corona-Krise.

Dienstag, 12. Mai 2020
Kai Budler

In acht der 16 Bundesländer haben sich im vergangenen Jahr durchschnittlich mindestens fünf rechte, rassistische und antisemitische Angriffe pro Tag ereignet. Das geht aus der Jahresstatistik 2019 hervor, die jetzt der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) präsentiert hat. Er registriert 2019 drei Todesopfer und 1.982 direkt Betroffene rechter Gewalt. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen unter den Betroffenen stieg um 14 Prozent im Vorjahresvergleich an.

Die Jahresstatistik dokumentiert die Angaben der im VBRG zusammengeschlossenen Beratungsstellen in den fünf ostdeutschen Bundesländern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein.

Tatmotiv Rassismus

Demnach war das Tatmotiv in rund zwei Dritteln der Fälle Rassismus, 221 Gewalttaten richteten sich gegen vermeintliche politische Gegner und in 134 Fällen waren Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung von rechter Gewalt betroffen. Trotz des Rückgangs der Gesamtzahl der Gewalttaten von rechts um zehn Prozent im Vorjahresvergleich dokumentiert die Statistik auch 2019 ein anhaltend hohes Niveau rechter Gewalt. So stieg die an der Einwohnerzahl gemessene Zahl der rechten und rassistischen Gewalttaten in Berlin mit 10,7 Prozent deutlich an. In westdeutschen Flächenländern wie Schleswig-Holstein und im bevölkerungsreichen Nordrhein Westfalen fällt die an der Einwohnerzahl gemessene Zahl der Gewalttaten geringer aus. Judith Porath vom Vorstand des VBRG warnt vor einer Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus in der Corona-Krise. Auch die Gefahr von antisemitisch und rassistisch motivierten rechtsterroristischen Anschlägen sei nicht gebannt. „Drei Menschen starben in 2019, in diesem Jahr haben schon zehn Menschen durch Rechtsterrorismus und Rassismus ihr Leben verloren,“ so Porath.

„Neue rechtsterroristische Radikalisierungsschübe“

Prof. Gideon Botsch von der Moses Mendelssohn-Zentrum Universität Potsdam erläutert, bei Protesten gegen die Infektionsschutzmaßnahmen der letzten Wochen trete auch ein latent vorhandener Antisemitismus hinter dem Verschwörungsdenken offen zutage. Er hebt hervor: „Die sehr rasante Dynamik der Aufheizung seit cirka drei Wochen – von Regelverletzungen über aggressives Verhalten und Drohungen bis zu ersten Gewalttaten – lässt neue rechtsterroristische Radikalisierungsschübe befürchten.“ Newroz Duman von der Initiative „19 Februar in Hanau“ kritisiert: „Der Rechtsstaat lässt die Angegriffenen allzu oft im Stich. Ihre Forderungen nach transparenter Aufklärung und konsequenter Strafverfolgung würden ebenso ignoriert wie die klaren Warnsignale, die es vor dem Anschlag in Hanau gegeben habe. Judith Porath betont, die Botschaft, dass die Angegriffenen vom Staat nicht geschützt würden, „beeinflusst das demokratische Zusammenleben und den Alltag vieler Menschen, deren Privatadressen auf den Todes- und Feindeslisten der extremen Rechten kursieren“. Zusätzlich stünden die Angegriffenen buchstäblich vor den Trümmern ihrer Existenz, ohne dass staatliche Unterstützung existiere.

Appell zur Ausweitung der Entschädigungsleistungen

Unterdessen appellieren rund 50 Vertreter aus Verbänden, Gewerkschaften und Parteien an Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, die bisherige Lücke bei den staatlichen Entschädigungsleistungen für die Angegriffenen zu schließen. Zu den Erstunterzeichnern gehört auch Barbara John, die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer des NSU-Terrors. Darin heißt es: „Rassistisch und antisemitisch motivierte Gewalt will auch die wirtschaftliche Existenz der Angegriffenen und ihrer Familien vernichten und sie aus den Unternehmens- und Gewerbestrukturenvor Ort verdrängen. (...) Das Überleben und Verarbeiten von schwersten Gewalttaten ist auch davon abhängig, ob es für die Betroffenen eine Zukunftsperspektive gibt“. Zwar sollen die Härteleistungen für Opfer extremistischer Übergriffe und terroristischer Straftaten nach dem Willen des Gesetzgebers„einen Akt der Solidarität der Gesellschaft mit dem Opfer darstellen und Signalwirkung haben“. Doch sie würden nicht für „zerstörtes Inventar, Renovierungskosten, Sicherungsmaßnahmen oder existenzbedrohende Einnahmeverluste in Folge von rassistisch oder antisemitisch motivierten Brandanschlägen, schwersten Sachbeschädigungen und rechtsterroristischen Attentaten“ gewährt. Der VBGR, die darin zusammen geschlossenen 15 Beratungsstellen und die rund 50 Erstunterzeichnerbitten nun die Bundesjustizministerin, die Entschädigungsleistungen des Bundesamtes für Justiz auf Sachschäden und wirtschaftliche Verluste auszuweiten und entsprechende Soforthilfen für die Angegriffenen zu gewähren.

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