Ideologisch motivierte Mordtaten
Sieben Menschen wurden im Südwesten Frankreichs innerhalb von acht Tagen ermordet, weitere schwer verletzt. Auf der Opferliste des Attentäters: Schwarze, arabischstämmige Franzosen, Juden. Verdächtigt wird jetzt ein Mann, der dem Terrornetzwerk Al Qaida angehören soll.
Ein kaltblütiger Killer, der aus nächster Nähe Menschen erschießt, Kinder und Erwachsene. Der wahrscheinlich, wie Zeugenaussagen und Videoaufzeichnungen von Überwachungskameras belegen, bei seinen Mordtaten eine kleine Kamera um den Hals trug und seine Opfer filmte. Ein Mörder, der aus erkennbar ideologischen Motiven bislang drei Mal zuschlug, sieben Menschen ermordete und weitere verletzte. Auf seiner Opferliste stehen unterschiedliche Gruppen: Schwarze, arabischstämmige Franzosen und Juden.
So lautet das Profil des Täters, der am Montag früh dieser Woche vier Menschen vor einer jüdischen Privatschule in Toulouse erschoss: den 30-jährigen Lehrer Jonathan Sandler, seine beiden vier- und fünfjährigen Söhne Arieh und Jonathan sowie die siebenjährige Tochter des Direktors, Myriam Monsonego. Entgegen ersten Meldungen waren die Kinder nicht selbst Schüler der Bildungseinrichtung Ozar Ha-Torah, sondern in einer wenige hundert Meter entfernten jüdischen Schule eingeschrieben. Der Täter hatte sich auf einem Motorroller genähert und wahllos, aber aus unmittelbarer Nähe in die Menge geschossen. Zeugen sagten aus, er habe verletzten Kindern noch bis in das Innere der Schule hinein nachgestellt.
Auf offener Straße erschossen
Bereits in den acht Tagen zuvor hatte derselbe Täter – die Identität von Tatwaffe und benutztem Motorfahrzeug wurde am Montag durch die Ermittler nachgewiesen – in Toulouse und in der ebenfalls in Südwestfrankreich liegenden Stadt Montauban zugeschlagen. Am 11. März erschoss er den 30-jährigen Unteroffizier Imad Ibn Zitaten in Toulouse auf offener Straße. Der Franzose marokkanischer Herkunft und Fallschirmsoldat wollte sein Motorrad verkaufen. Er traf eine Verabredung mit einem Mann getroffen, der sich als Interessent und potenzieller Käufer ausgegeben hatte, und dann ohne Vorwarnung auf ihn schoss. Die Fahnder spüren seitdem den Kontakten nach, die das Opfer zuvor im Internet geknüpft hatte, wo das Motorrad angepriesen worden war.
Fünf Tage später starben am Donnerstag voriger Woche in Montauban zwei weitere Soldaten, der 24-jährige Mohamed Legouad und der 25-jährige Abdel Chennouf. Ein dritter Militärangehöriger, der 28-jährige Loïc Liber, wurde wurde schwer verletzt. Liber ist ein schwarzer Franzose, der von der Karibikinsel Guadeloupe stammt. Die drei Soldaten eines Fallschirmjäger-Regiments wurden an einem Geldautomaten, nur wenige Meter von ihrer Kaserne entfernt, angegriffen. Auch hier hatte sich der Täter auf einem zweirädrigen Motorfahrzeug genähert. Um seine Opfer zu erschießen, schob er einen weißen französischen Rentner, der ebenfalls vor dem Bankautomaten wartete, zur Seite. Offenbar wollte er ihn verschonen. Die unverzüglich alarmierte Polizei nahm die Verfolgungsjagd auf, verlor jedoch seine Spur an der Südausfahrt aus der Stadt.
Zeugin erkennt auffällige Tätowierung oder Narbe
Alle Mordattacken wurden mit einer Schusswaffe des Kalibers 11.43 ausgeführt. Dieses Kaliber ist in Frankreich eher selten, außer in Kreisen der organisierten Kriminalität. Bei der letzten Mordtat hatte der Attentäter jedoch eine weitere Waffe vom Kaliber 9 Millimeter als Ersatzpistole dabei. Stets trug er einen Helm und fuhr auf seinem Motorroller vom Ort des Geschehens weg.
In Montauban konnte eine Zeugin, die das Geschehen aus der Nähe beobachtete, offenbar das Gesicht des Täters für einen kurzen Augenblick sehen. Sie berichtete, als der Mann sich umgedreht habe, habe sie eine Gesichtshälfte unter dem durch die Bewegung hochgeschobenen Motorradhelm sehen können. Dort habe er eine auffällige Tätowierung, oder eventuell auch eine Narbe, getragen.
Laut bisherigen Kenntnissen handelte der Mörder allein. Eventuelle Komplizenschaften sind bislang in keiner Hinsicht nachgewiesen. Nach den Mordanschlägen auf die Soldaten war, sofern „politische“ Hintergründe respektive ideologische Motive vermutet wurden, eher eine Tat eines Radikalislamisten angenommen worden. So ging man davon aus, dass es plausibel sei, dass ein Täter aus dieser Ecke beispielsweise „Rache für getötete Afghanen“ habe nehmen wollen. Im letzteren Falle hätte ein von radikalislamistischen Ideen beeinflusster Täter – so lautete die Hypothese – eventuell besonders gezielt maghrebinischstämmige Soldaten attackieren können, weil es aus seiner Sicht besonders schlimm sei, dass sie „im Auftrag von Ungläubigen in Afghanistan andere Moslems töten“.
Opfer passen in neonazistisches Gesamtprofil
Zwar ist diese Hypothese bislang noch nicht völlig entkräftet. Anschlagsversuche auf jüdische Schulen von einzelnen Radikalislamisten, damals in Lyon, hatte es etwa im Zuge der Attentatsserie vom Sommer 1995 gegeben. Jedoch spricht die Information über die Gesichtstätowierung des Täters, sofern sie bekräftigt werden kann, klar gegen diese Annahmen. Denn Islamisten tragen grundsätzlich keine Tätowierungen: Laut orthodox-islamischer Glaubensauffassung stellen die eine schwere Sünde dar, weil sie eine freiwillige Selbstverletzung der Körpers, welcher nur eine Leihgabe Gottes sei, darstellten. Islamistische Bewegungen sind zwar politischer und nicht theologischer Natur, müssen jedoch aus ideologischen Gründen „Glaubensvorgaben“ berücksichtigen und darauf Rücksicht nehmen.
Angenommen werden nun in breitesten Kreisen viel eher Neonazi-Taten. Ihnen wären ein Schwarzer, mehrere „Araber“ – oder auch nordafrikanische Berber – und nunmehr auch mehrere jüdische Menschen zum Opfer gefallen, was in ein neonazistisches Gesamtprofil hinein passt.
Am Montagnachmittag erhärtete sich die Neonazi-Spur in den Augen der Öffentlichkeit, nachdem das Wochenmagazin „Le Point“ daran erinnerten hatte, dass 2008 eine Neonazi-Connection in einer Kaserne in Montauban ausgehoben wurde. Damals hatte ein französischer Soldat maghrebinischer Herkunft die Behörden alarmiert: In örtlichen Kasernen feierten Soldaten Feten mit Hakenkreuzfahnen und SS-Symbolen. Drei besonders stark belastete Militärs wurden daraufhin aus dem Dienst entlassen.
Marine Le Pen sagt Fernsehdebatte ab
Einer der damals auffällig gewordenen Soldaten, der heute in Castres ansässig ist, wurde im Zuge der Ermittlungen in den letzten Tagen kurzzeitig festgenommen, jedoch ergebnislos wieder aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Derzeit sieht es so aus, dass zumindest den drei Dienstentlassenen von 2008 keine Schuld zur Last gelegt werden kann.
Auf nationaler und internationaler Ebene lösten die Mordtaten ein sehr breites Echo aus. Am Dienstag verurteilten die Vereinten Nationen die Morde. An einem Schweigemarsch in Paris am Montagabend, der innerhalb weniger Stunden auf die Beine gestellt worden war, nahmen rund 10.000 mehrheitlich jüdische Menschen teil. Am Dienstag legten die französischen Schulen eine Schweigeminute für die Opfer ein. Präsident Nicolas Sarkozy eilte noch am Montag nach Toulouse, und sprach am Abend in einer Pariser Synagoge. Der sozialistische Präsidentschaftskandidat François Hollande nahm seinerseits am vergangenen Mittwoch an der Beerdigung der Opfer in Montauban teil. Die Leichen der in Toulouse Ermordeten wurden am Dienstag zur Bestattung nach Israel ausgeflogen. Die Sozialisten setzten ihren Wahlkampf aus. Die meisten politischen Kräfte taten es ihnen nach.
Auch die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen machte da keine Ausnahme, sondern sagte eine Fernsehdebatte ab, an welcher sie ursprünglich am Montagabend teilnehmen sollte. Selbst der außerparlamentarische neonazistische „Bloc identitaire“ publizierte ein Kommuniqué zur Verurteilung der Taten. Es wird sich jedoch erst noch herausstellen müssen, ob der Mörder wirklich allein handelte – oder ob eine Zelle, vergleichbar mit dem braunen Terrortrio aus Zwickau, hinter ihm stehen könnte.