Zeitzeugen
Holocaust-Überlebende: Auch wider das Gift der Gegenwart
Bei einem Zeitzeugenabend an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen – neudeutsch RWTH Aachen University – berichteten die Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub und Henriette Kretz über die erlittenen Gräuel. Dabei mahnten sie auch vor aktuellen politischen Entwicklungen.

Holocaust-Überlebende sind wichtige Zeitzeugen – aber auch Mahner für die Zukunft. Leon Weintraub (99) überlebte als Jude das Ghetto Litzmannstadt, mischte sich in Auschwitz-Birkenau unter Arbeitshäftlinge und erging mit dieser Finte der Ermordung. Danach überlebte er die Konzentrationslager Groß-Rosen, Flossenbürg und Natzweiler-Struthof. 1945 gelang ihm die Flucht bei einem Angriff alliierter Jagdflieger auf einen Transport in Richtung Bodensee. Heute lebt Weintraub in Schweden. Für sein Engagement als Zeitzeuge wurde ihm unter anderem das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Im Vorfeld der Bundestagswahl und nach der Abstimmung der Unionsparteien mit der AfD im alten Bundestag protestierte er in einem Brief an den Kanzlerkandidaten Friedrich Merz. Darin forderte der 99-Jährige Merz und die CDU auf, das „menschenfeindliche“ Zustrombegrenzungsgesetz nicht weiter zu verfolgen. Das Asylrecht sei ein Menschenrecht, so Weintraub. Die CDU solle nicht länger auf die „Lockrufe der Rechten“ hören. „Arbeiten Sie mit demokratischen Parteien und Menschen guten Willens“, forderte Weintraub. Das Gesetz sorge für Fremdenfeindlichkeit und eine Polarisierung der Gesellschaft, „die wir Überlebenden des Holocausts so bitter am eigenen Leibe erfahren mussten.“
Minutenlange stehende Ovationen
Gemeinsam mit der Überlebenden Henriette Kretz (91), die heute in Belgien lebt, sprach Weintraub am Dienstag in Aachen vor rund 500 Zuhörern in der Aula 1 im Hauptgebäude der RWTH Aachen. Schon zur Begrüßung standen große Teile des Auditoriums auf und applaudierten stehend – nicht anders endete der rund zweieinhalbstündige Abend. Minutenlange stehende Ovationen für die beiden rüstigen Senioren, die nicht nur verbindet, dass sie weiter über das Erlittene und den Verlust von Angehörigen öffentlich sprechen. Beide sind auch in Polen geboren.
Henriette Kretz war fünf Jahre alt, als die Deutschen einmarschierten. Es seien „junge attraktive Männer in Uniform“ gewesen. Erst später habe sie verstanden, warum ihre Eltern diese Männer als „Monster“ bezeichnet hätten. Kretz musste als kleines Mädchen mit anhören, wie ihr Vater und ihre Mutter von deutschen Soldaten verschleppt und erschossen wurden. Sie hörte die Schreie beider, dann die Schüsse, dann Stille. Als Kind fand sie allein und unentdeckt in einem ostpolnischen Ort den Weg in ein katholisches Waisenhaus. Das kannte sie von der Arbeit ihres Vaters.
Antisemitismus allerorten
In dem Haus lebten andere Waisenkinder aus Polen und der Ukraine. Eine Ordensschwester versteckte das jüdische Mädchen. In Aachen schilderte die heute 91-Jährige, welchen Mut das damals erforderte. Wäre sie als Kind von den Nazis entdeckt worden, hätten diese nicht nur sie selbst, sondern auch die Ordensfrau erschossen.
Antisemitismus und Judenhass, so die zierliche Seniorin, seien unter den Nazis massenmörderisch gewesen. Aber es gebe beides auch heute noch – in Belgien und andernorts. „Antisemitismus ist überall“, sagte die 91-Jährige. Ein anderes großes Problem auf der Welt sei der Rassismus. Die Strapazen der Reisen zu ihren Vorträgen und Gesprächen als Zeitzeugin nehme sie in Kauf, so die betagte Seniorin. Ursache dafür sei das, „was in Deutschland geschehen ist“. Das müssten die Menschen wissen.
Das Gift der Gegenwart
Diktaturen, ergänzte Kretz zum aktuellen Weltgeschehen, seien neben dem Antisemitismus und dem Rassismus eine weitere große Gefahr. „Es gibt sie immer noch, es gibt Völker, die leiden, es gibt Ausgrenzung, das alles ist sehr gefährlich.“ Kretz wies darauf hin, dass der russische Präsident Wladimir Putin ein Diktator sei, dass es Diktaturen in Asien gebe. Und dann ergänzte sie, dass sich „in Amerika“ Ähnliches abzeichne. „Was auf anderen Kontinenten passiert, ist auch für uns giftig!“
Leon Weintraub ging in Aachen nicht auf seinen Brief an Merz ein. Er sagte aber, dass er die aktuellen Ereignisse mit Sorge beobachte. „Alles, was nach 1945 kam, war besser als das, was es davor gab“, mahnte er. Für ihn sei es heute aber völlig „unvorstellbar“, dass sich Menschen als Nazis und Nationalsozialisten verstehen würden und sich auch offen selbst so bezeichnen. Als gebürtiger Pole findet er es zudem „unfassbar“, dass auch junge Polen „sich Nazis nennen – weil ihre Vorfahren von Nazis ermordet wurden“.
Versöhnung mit dem Bösen
In seinem biografischen Buch „Die Versöhnung mit dem Bösen. Geschichte eines Weiterlebens“ hat Weintraub seinen Werdegang beschrieben. Heute stehe er auch in Kontakt mit den Nachkommen der Tätergeneration, die aufgrund der nationalsozialistischen „Rassenlehre“ massenhaft Menschen ermordet hat. Versöhnung, so Weintraub in der Aula der RWTH, sei möglich, sie beruhe aber auf Gegenseitigkeit.
Und er ergänzte: „Wir sind alle Menschen und der gesunde Menschenverstand muss siegen.“ Der populistische und scheinheilige Kampfbegriff der AfD – angeblich will sie die Partei des „gesunden Menschenverstandes“ sein – war damit nicht gemeint. Einen gesunden Menschenverstand hätten Humanisten und Menschenfreunde, sagte Weintraub.