Griff nach den Rathäusern
Der Front National hat zu den französischen Kommunalwahlen im März knapp 600 Listen eingereicht – ein neuer Rekord.
Je nachdem, wie man es dreht oder wendet: Das Glas ist halbvoll oder aber halbleer. So könnte man es in einer ersten Reaktion auslegen, dass der rechtsextreme Front National auf der Zielgeraden – also bei Ablauf der Frist für die Einreichung von Listen zu den französischen Kommunalparlamentswahlen – nunmehr knapp 600 Listen in mittleren und größeren Kommunen vorweisen kann.
Insgesamt existieren in Frankreich, wo die Dörfer nicht in einer Kreisreform zusammengelegt wurden wie etwa 1974 in der Bundesrepublik, 36 000 Kommunen. Davon sind aber die Mehrzahl kleine bis sehr kleine Gemeinden, in denen ausschließlich parteifreie oder parteiübergreifenden „Listen des Gemeinwohls“ kandidieren. An Städten mit über 9000 Einwohnerinnen und Einwohnern gibt es rund 3000. In ihnen konzentriert sich der politische Wettbewerb, wenn an den beiden letzten Sonntagen im März in ganz Frankreich die Rathäuser neu besetzt werden. An ihrer Gesamtzahl muss sich der Erfolg oder Misserfolg der Mobilisierung durch eine politische Partei messen lassen. Keine unter den Parteien tritt dabei flächendeckend in allen Kleinstädten an.
Bewerber ohne Einwilligung auf der Liste aufgetaucht
Im September 2013, als Marine Le Pen anlässlich der „Sommeruniversität“ des FN in Marseille den Kommunalwahlkampf lancierte, kündigte die Parteichefin „rund 700“ Listen zu den Rathauswahlen vom März an. Doch im Januar war die Anzahl dann auf „circa 500“ heruntergekocht worden.
Geworden sind es nunmehr 596. Im Prinzip waren es sogar 597 Listen der rechtsextremen Partei, die bis zum Anmeldeschluss am 6. März eingereicht wurden. Eine davon, in Grand-Quevilly in der Nähe von Rouen, wurde jedoch noch in der Nacht durch die Verwaltung abgelehnt. 22 von insgesamt 35 Bewerbern auf der örtlichen Liste hatten sich beschwert, dass sie ohne ihr Wissen beziehungsweise ohne ihre Einwilligung dort auftauchten – sie hätten nie die Absicht gehabt, zu kandidieren, oder nicht für den Front National.
Man muss trotz allem von einem eindeutigen Erfolg für die rechtsextreme Partei sprechen. Denn noch nie hatte sie so zahlreiche Listen im Rennen. Im Jahr 1989 konnte sie 335 kommunale Listen aufstellen, und 1995 – dem Jahr ihrer stärksten Mitgliederentwicklung und der ersten Siege bei Rathauswahlen – waren es insgesamt 537. Im selben Anlauf gewann die rechtsextreme Partei damals im Juni 1995 ihre ersten „eigenen“ Rathäuser: Von da ab regierte sie für einige Jahre Toulon, Orange und Marignane. Von diesen Kommunen bleibt nur Orange bis heute rechtsextrem regiert. Allerdings verließ der Bürgermeister der Stadt, Jacques Bompard, 2005 den FN. Er wechselte zwei Mal die Partei und steht heute dem ebenfalls rechtsextreme „Identitären Block“ sehr nahe. Die anderen Städte gingen nach wenigen Jahren für die extreme Rechte wieder verloren.
Aderlass an fähigen Parteikadern wirkt nach
Die große Parteispaltung von 1999, zwischen dem damaligen Chef Jean-Marie Le Pen und seinem früheren Chefideologen Bruno Mégret, entzog der Partei für lange Jahre ihr „Fundament“ in der Fläche. 2001 konnte sie nur insgesamt 225 Listen zu den Rathauswahlen aufbieten, und 2008 waren es ihrer nur noch 119.
Auch bis heute noch wirkt der sehr erhebliche Aderlass an Aktivisten, vor allem aber an Strategen und zu eigenem Denken fähigen Kadern im Zusammenhang mit der Mégret-Spaltung nach. Die rechtsextreme Partei hat ihre Krise auf vielen Ebenen überwunden, nachdem Altpräsident Jean-Marie Le Pen am 16. Januar 2011 „endlich“ abtrat und seiner Tochter Marine den Vorsitz überließ. Doch der Mangel zumindest an erfahrenen und zu politischem Handeln in der Öffentlichkeit „ohne Aufsicht“ fähigen Parteigängern ist nach wie vor offensichtlich. Vor der Spaltung bezifferte der Front National die Mitgliederzahl offiziell meist mit 70 000 oder 75 000 – der Rechtsstreit zwischen den beiden im Konflikt stehenden Flügeln offenbarte damals, dass es real 42 000 waren –, und heute spricht er erneut von 74 000 Mitgliedern. Die reale Größenordnung ist im Einzelnen schwer überprüfbar. Gesichert ist jedoch, dass ein erheblicher Teil der Mitglieder erheblichen Mangel an Kommunikationsfähigkeit und rechtlichem oder politischem Problembewusstsein aufweist.
Mit Hakenkreuzfahne auf Facebook
Konkret bedeutet dies: Probleme der Parteiführung mit künftigen Kandidaten, welche brennende Davidsterne auf ihrer Facebook-Seite zeigen (4. September 2013), die farbige Justizministerin Christiane Taubira als „Affenweibchen“ und „Wilde“ bezeichnen (17. Oktober), SS-Tätowierungen am Unterarm tragen (14. Februar 2014) und Ähnliches mehr. Die Parteispitze versuchte notgedrungen, gar zu sehr „belastende“ Kandidaten zurückzuziehen oder, in besonders medienträchtigen Fällen, mit Ausschluss zu sanktionieren. Nicht in allen Fällen gelang dies.
Am vergangenen Freitag wurde ein neuer Skandal publik. Séverine Amelot, Bewerberin auf der FN-Liste in Nevers (Region Burgund), posiert auf drei Photos bei Facebook mit Hakenkreuzfahne und in einem Pullover mit SS-Symbol. Marine Le Pen tat dies gegenüber der Presse als „geringfügig“ ab: Es gebe „nur ein Problem bei insgesamt 22 000 Kandidaten!“ Die örtliche Parteileitung gab an, ihre Liste nicht mehr zurückziehen zu können, aber die junge Kandidatin vor dem zweiten Wahlgang von der dann umgebildeten Liste herunterzunehmen.
Dabei hatte nach dem ersten Zwischenfall von Anfang September 2013 mit dem Israelfahnen-Verbrenner François Chatelain der FN-Generalsekretär Steeve Briois so sehr darauf insistiert: Die örtlichen Parteifunktionäre müssten unbedingt die Facebook-Seiten, eventuelle Blogs und Webseiten sämtlicher Kandidatinnen und Kandidaten absuchen. Nämlich, um ebensolche Vorkommnisse zu vermeiden.
Mandatsträger sollen in Lehrgängen qualifiziert werden
Solche Zwischenfälle belegen zweierlei: erstens, auf was für ein Publikum der FN nach wie vor eine offensichtliche Anziehungskraft besitzt. Zum Zweiten, dass die rechtsextreme Partei trotz aller Bemühungen oft ihre Mühe und Not hat, ihre örtlichen Listen voll zu bekommen. Rathauslisten dürfen nur dann eingereicht werden, wenn sie vollständig sind, das heißt, wenn sie ebenso viele Namen enthalten, wie das jeweilige Kommunalparlament Sitze aufweist, um vakante Mandate zu vermeiden. Im Klartext bedeutet das, überall mehrere Dutzend Kandidatinnen und Kandidaten aufbieten zu müssen. Für mitgliederschwächere Parteien oftmals ein schweres Unterfangen.
Die seit dem Amtsantritt Marine Le Pens als Parteichefin eingetretenen FN-Mitglieder sind häufig politisch nicht ausgebildet. Vielerorts sind die Bewerberinnen und Bewerber ausgesprochen jung: In Créteil bei Paris ist der Spitzenkandidat erst 18 Jahre alt. Nunmehr setzt die Parteiführung unter Marine Le Pen darauf, dass, wenn am 23. und 30. März mehrere hundert Kommunalparlamentarier für den FN gewählt würden, sich daraus mittel- und längerfristig wieder ein tauglicher Apparat aufbauen lasse. Die Mandatsträger will man dann durch politische, verwaltungsrechtliche, finanztechnische Lehrgänge schleusen, um sie zu qualifizieren. Unter diesen Bedingungen kann die rechtsextreme Partei allerdings kaum darauf hoffen, in größerer Zahl Rathäuser zu übernehmen. Die FN-Spitze selbst spricht davon, 15 Kommunalregierungen mit plausibler Wahrscheinlichkeit übernehmen zu können. Dazu zählen jene von Forbach in Lothringen, Hénin-Beaumont in Nordostfrankreich und mehrere Kommunen in den südostfranzösischen Bezirken Var und Vaucluse.