Geschichte als politisches Kampffeld der Neuen Rechten
Rechtspopulisten und Neurechte greifen aus ideologischen Gründen den entstandenen Geschichtsdeutungskonsens an. Sie wollen die Geschichte umdeuten und damit instrumentalisieren.
Geschichte ist auch ein politisches Kampffeld, werden doch entsprechende Bilder über die historische Entwicklung auch politisch genutzt. Dies bezieht sich auf die unterschiedlichsten Akteure und verdient wissenschaftliche Kritik. Insbesondere gilt dies für rechtsextremistische Bestrebungen, welche damit antidemokratische Konsequenzen verbinden. Diese Einsicht hat wohl den Politikwissenschaftler Andreas Audretsch und die Historikerin Claudia C. Gatzka dazu motiviert, einen Sammelband zum Thema zu konzipieren. Er erschien unter dem Titel: „Schleichend an die Macht. Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen“. Als Autor für ein Geleitwort gewannen die Herausgeber den bekannten Historiker Jürgen Kocka. Dieser weist darauf hin, dass es von der AfD und deren Umfeld politische Angriffe auf den entstandenen Geschichtsdeutungskonsens gebe: „Dazu gehört es, die Bedeutung des Zivilisationsbruchs, den die nationalsozialistische Vernichtungs- und Zerstörungspolitik darstellte, herunterzuspielen“ (S. 13).
Fallstudien zu Deutschland, Italien und Ungarn
Folgt man den beiden Herausgebern, dann geht es in dem Sammelband darum, „diese Gesamtstrategie zu analysieren und die geschichtspolitischen Mechanismen aufzudecken“ (S. 18). Berechtigt wird darauf hinwiesen, dass die kritische Geschichtsforschung viele historische Mythen dekonstruiert habe. Da ist etwa vom „Konstruktionscharakter des Nationalen“ (S. 23) die Rede. Indes merkt man bereits in der Einleitung, dass ein doch etwas diffuser und ungenauer Begriff von „Neue Rechte“ genutzt wird. Es bleibt unklar, was damit eigentlich gemeint ist, eine besondere Intellektuellengruppe oder ein politisches Spektrum. Dominant ist die Auffassung im letzt genannten Sinne, ordnet man doch auch gelegentlich Trump entsprechend zu. Dadurch wird die Kategorie eher diffus genutzt. Gleichwohl verdienen die Beiträge im ersten Kapitel sehr wohl Interesse, handelt es sich doch um Fallstudien zu Deutschland, Italien und Ungarn. Deutlich veranschaulichen die Autoren, wie durch die entsprechenden Akteure Geschichte aus ideologischen Gründen in diesen Ländern umgedeutet werden soll.
Verklärte Geschichtsbilder vom „christlichen Abendland“
Im zweiten Kapitel weichen dann die Aufsätze vom eigentlichen Schwerpunkt etwas ab. Denn dort geht es zunächst um das Demokratieverständnis im rechten politischen Lager. Ähnlich verhält es sich bei dem nachfolgenden Beitrag, der auf einen immer wieder behaupteten „Feminismus von rechts“ eingeht. Indessen handelt es sich dabei um eine bloße Instrumentalisierung. Mit einem einfachen Hinweis lässt sich dieser entlarven: „Ginge es den neurechten Aktivist*innen heute tatsächlich um das Recht der Frau auf körperliche Unversehrtheit ... müssten sie ihren Blick auf die Alltagsrealität europäischer Familien richten.“ Denn meist ist es so, „dass weiße Frauen ... physische Gewalt durch ihre weißen Partner erfahren ...“ (S. 70), was eben ignoriert wird. Anschließend geht es um das Aufgreifen von Geschichtsbildern, welche vom „christlichen Abendland“ verklärte Bilder zeichnen. Und schließlich wird noch das Aufgreifen der Corona-Krise durch die gemeinten Rechten thematisiert, womit sie allerdings doch keinen Erfolg hatten.
Ein Aufruf steht dann am Ende des Sammelbandes, worin nicht nur, aber auch die Geschichtswissenschaften dazu aufgerufen werden, die erwähnten ideologischen Geschichtsumdeutungen zu dekonstruieren. Für eine derartige ideologiekritische Denkperspektive wirbt die Monographie - und darin ist auch ihr Verdienst zu sehen. Die Autoren und Herausgeber sprechen ein wichtiges Politikfeld für Rechtsextremisten an, wozu bislang nur wenige Beiträge vorliegen, aber Studien notwendig wären. In dem Band findet man viele wichtige Reflexionen dazu. Einige Abhandlungen sind allerdings etwas fragmentarisch und weniger strukturiert gehalten. Gleichwohl enthalten sie viele Anregungen für die kritische Forschung dazu. Dies gilt nicht nur für die jüngere Geschichte, sondern auch für das Mittelalter und die Neuzeit. Denn das „christliche Abendland“ war nun gar nicht so fortschrittlich und human, wie die Neurechten es aus ideologischen Gründen verklären wollen. Der Band sensibilisiert für solche Entwicklungen.
Andreas Audretsch/Claudia C. Gatzka (Hrsg.), Schleichend an die Macht. Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen, Bonn 2020 (J. H. W. Dietz-Verlag), 132 Seiten, 14,90 Euro.