Frankreich: Auf Sieg folgt Niederlage
Unerwartet schlecht schnitten die Rechtsextremen letztendlich bei der französischen Parlamentswahl ab. Nachdem ihnen nach dem ersten Durchgang – bei dem der Rassemblement national über 33 Prozent der Stimmen erhielt – bereits mindestens eine relative, wenn nicht absolute Mehrheit der Mandate prognostiziert worden war, verfehlten sie dieses Ziel im zweiten Wahlgang deutlich. Infolge der Stichwahlen wurden sie dann nur noch drittstärkste politische Kraft im Parlament. Eine Ursachenforschung.
Lange Gesichter gab es am Sonntag beim Wahlabend des Rassemblement national (RN, „Nationale Sammlung“) im Parc Floral, an den Stadttoren von Paris im zwölften Stadtbezirk. Als die erste Hochrechnungen gegen 20 Uhr über die Bildschirme flimmerten, entglitten viele Gesichtszüge, und die zum Schwenken bereit gehaltenen blau-weiß-roten Fähnchen hielten in ihren Winkbewegungen inne.
Die Überraschung an diesem Sonntagabend war echt: Im ersten Wahlgang der französischen Parlamentswahl am 30. Juni hatten noch die Rechtsextremen als stärkste und das Linksbündnis „Nouveau Front populaire“ (NFP, etwa „Neue Volksfront“, doch inhaltlich richtiger: „Neue Front derer da unten gegen die da oben“; Namensgebung in Anspielung auf den Namen der linken Regierungskoalition von 1936/37) als zweitstärkste Kraft abgeschnitten. Doch eine Woche darauf drehte sich das Verhältnis komplett um.
Dritter Platz statt erwartetem Siegerpodest
Die linke Wahlallianz NFP erhielt nunmehr 182 Parlamentssitze von insgesamt 577 und landete auf dem ersten Platz, das Staatspräsident Emmanuel Macron unterstützende Parteienbündnis Ensemble 163. Die Rechtsextremen landeten plötzlich nur noch auf dem dritten Rang mit 125 Sitzen für Kandidaten des Rassemblement national (RN) und weiteren 17 für direkt mit dem RN verbündete Konservative rund um den Parteiflügel der gespaltenen bürgerlichen Rechtspartei Les Républicains (LR) um Eric Ciotti. Hinzu kommen im künftigen Parlament kleinere politische Kräfte, etwa die nicht mit den Rechtsextremen verbündeten Teile von LR.
Möglich gemacht hatte diese allgemein unerwartete Umkehr des Kräfteverhältnisses, zu Ungunsten der extremen Rechten, zunächst ein weitgehend spontaner antifaschistischer Reflex in Teilen der Wählerschaft, insbesondere der jungen Generation. Die Stimmbeteiligung lag mit knapp 67 Prozent so hoch wie seit 1997 nicht mehr, dem Jahr der bislang letzten Parlamentsauflösung unter dem damaligen Präsidenten Jacques Chirac. Aufgrund der Urlaubszeit drohte ein Sinken der Wahlbeteiligung, doch wurden über drei Millionen Vollmachten – ein Novum in dieser Dimension – durch verhinderte Wählerinnen und Wähler ausgestellt. Die starke Mobilisierung schlug nicht zu Gunsten, sondern zu Lasten der Rechtsextremen aus.
Kandidaten-Rückzug, um Vormarsch der Rechten zu verhindern
Begünstigt wurde dieser Mechanismus der Abwehr gegen die rechtsextreme Bedrohung wiederum durch das Verhalten vieler Kandidatinnen und Kandidaten, die ihre Bewerbung zwar – aufgrund ihres Stimmenanteils in der ersten Runde, erforderlich waren dafür die Stimmen von 12,5 Prozent der Wahlberechtigten, also circa 18 Prozent der abgegebenen Stimmen – in der Stichwahl hätten aufrechten erhalten können; diese jedoch zurückzogen, um nicht besser platzierte Kandidaturen aus dem nicht-rechtsextremen Lager zu behindern.
Trotz immenser, insbesondere wirtschafts- und sozialpolitischer Differenzen zwischen dem heterogenen linken und dem liberalen Lager funktionierte dieser gegenseitige Rückzug letztendlich. Über 220 Kandidaturen wurden vor der Stichwahl zurückgezogen. Statt in 300 möglichen Fällen fanden Stichwahlrunden zu dritt nur noch in 89 Wahlkreisen statt, in den übrigen hingegen wurde die entscheidende Runde nur noch unter zwei Bewerbern ausgetragen. Statt relativer wurden dadurch fast überall absolute Mehrheiten erforderlich. Diese Hürde konnte die extreme Rechte vielerorts, da ihre Gegner auf unterschiedlichen Seiten wach wurden, dann doch nicht nehmen.
Rassistische Welle
Ihr Erfolg blieb schon im Vorfeld nicht ohne Auswirkungen. Auch nach Darstellung etablierter Medien schwappte bereits in den vergangenen drei Wochen, seit dem Abend der Europaparlamentswahlen, eine in diesem Ausmaß seit Längerem nicht gekannte rassistische Welle durch das Land. In Montargis, eine Zugstunde südöstlich von Paris, wurde ein Nachbarschaftsstreit landesweit zum Politikum. Dabei beschimpften der Ehemann, aktiv beim RN, und dessen Gattin eine neue Nachbarin – offenkundig, weil sie schwarz ist – in übelster Weise und riefen der Krankenschwester etwa zu: „Ab ins Körbchen!“ (à la niche!), buchstäblich, wie man es einem Hund befiehlt. Die Ehefrau, die der ihr unbekannten Nachbarin ins Gesicht schleuderte, wegen „Leuten wie ihr“ sei sie aus dem sozialen Wohnungsbau ausgezogen, ist Gerichtsbedienstete in ihrer Stadt. Justizminister Eric Dupond-Moretti hat sie vom Dienst suspendiert.
Der früheren Partei- und Fraktionschefin des RN, Marine Le Pen, fiel dazu in der Öffentlichkeit erst einmal nur ein, nichts beweise, dass die Sache etwas mit Rassismus zu tun haben könnte. „Ab ins Körbchen!“ sei ja vielleicht eine Neckerei unter Nachbarn, ein örtlich üblicher Spruch.
Streit um doppelte Staatsbürgerschaft
Die letzte Polemik vor dem ersten Wahlgang prägte unterdessen der bisherige Anwärter des RN auf das künftig möglicherweise von ihm zu besetzende Bildungsministerium, Roger Chuneau. Er kommentierte in einer Talkshow, eine frühere Ministerin wie Najad Vallaud-Belkacem – die junge Frau besitzt neben der französischen auch die marokkanische Staatsangehörigkeit – hätte wegen ihrer doppelten Staatsbürgerschaft nichts im Amt verloren gehabt. Vallaud-Belkacem war seine frühere Vorgesetzte, der Mann ist hoher Beamter im Schulministerium. Wenige Minuten später weitete der Mann seinen Vorbehalt auch noch auf den amtierenden Justizminister Dupond-Moretti aus, dieser ist französisch-italienischer Doppelstaatsbürger.
Marine Le Pen distanzierte sich eilfertig, so habe sie es nicht gemeint gehabt, als ihre Partei sich gegen Doppelstaatsangehörige in „sensiblen“ öffentlichen Ämtern einsetzte. Erstmals würde dadurch eine juristische Ungleichbehandlung unter französischen Staatsangehörigen – im Hinblick auf die Nationalität – eingeführt.
Gespaltene Konservative
Mehrfach gespalten zeigten sich die französische Konservativen. Ein Teil von ihnen verbündete sich schon am 11. Juni, also anderthalb Tage nach der Bekanntgabe der Parlamentsauflösung und der Ausschreibung vorzeitiger Neuwahlen durch Staatspräsident Emmanuel Macron, mit dem RN.
Diesen Beschluss traf Eric Ciotti, seit Dezember 2022 gewählter Parteivorsitzender von Les Républicains (LR), als einsame Entscheidung, den seine Parteifreundinnen und -freunde über die Presse, konkret über die Tageszeitung Le Figaro, erfuhren. Daraufhin schloss ihn der Parteivorstand aus, doch der Ausschluss wiederum wurde am 14. Juni gerichtlich annulliert. Die führenden Parteifunktionäre stellten dann jedoch Kandidatinnen und Kandidaten für die Parlamentswahl ohne sein Zutun auf. Daraufhin nominierte der Ciotti-Flügel eigene Gegenkandidaten. Angekündigt wurde dies zunächst für 80 Wahlkreise, es wurden dann letztlich 62 Kandidaturen. So viele Wahlkreise räumte der RN zugunsten seiner neuen Verbündeten, um zur Wahl dieser konservativen Kandidaten aufzurufen; die Zahl ist identisch mit jenen Sitzen, die die Partei LR in der vergangenen Legislaturperiode (2022 bis 2024) innehatte.
Zwei Seilschaften wurden dafür durch den mit Marine Le Pen zusammenarbeitenden doch innerhalb des konservativen Spektrums agierenden, katholischen und gegen die Homosexuellenehe kämpfenden Milliardär Pierre-Edouard Stérin mobilisiert: Einerseits die 2012/13 aus dem Kampf gegen die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare hervorgegangenen Gruppierung „Sens commun“ („Gemeinsinn“), zum Anderen die Kommentatoren und Moderatoren des privaten TV-Senders CNews. Jener gehört dem Medienmogul Vincent Bolloré, der diesen gerne zu etwas wie dem französische Äquivalent des nordamerikanisch-australischen Senders „Fox News“ umbauen.
Eine zweite Gruppe von Konservativen lehnte jegliche Kooperation mit den Rechtsextremen ab. Eine dritte Fraktion wiederum stand zwischen den ersten beiden und kündigte an, nicht im ersten Wahlgang, doch in der Stichwahl – sofern konservative oder rechtsextreme Kandidaten dem Linksbündnis gegenüberstanden – auch Kandidaturen des RN zu unterstützen.
Zu der letztgenannten Gruppe zählte auch der Spitzenkandidat von LR bei den jüngsten Europaparlamentswahlen, François-Xavier Bellamy. Er hatte allerdings bereits 2021, anlässlich des bevorstehenden Ausschlusses der Partei Fidesz um Viktor Orban aus der Europaparlamentsfraktion der Konservativen (EVP), vehement gegen diesen getrommelt. Dies vermied die ungarische Partei dann übrigens durch den zuvorkommenden eigenen Austritt aus der Fraktion. Bellamys Positionierung ist also insofern nicht neu.
Gemischte Wählerschaft
Ansonsten muss festgestellt werden, dass die rechtsextreme Wählerschaft – vor allem die vom ersten Wahlgang, die besonders breit aufgestellt war – inzwischen in quasi alle gesellschaftlichen Milieus hineingreift.
Während die rechtsextreme Wählerschaft – die des damaligen Front National (FN) vor der Umbenennung in RN seit 2018 – in den achtziger Jahren eher eine aus Besserverdienenden und selbstständigen Gewerbetreibenden war, wandelte sich die soziale Zusammensetzung ab den frühen 1990er Jahren stark zugunsten einer hinzugewonnenen Arbeiterwählerschaft.
Jüngst zeigte sich jedoch ein sehr durchmischtes Bild. Glaubt man etwa den Zahlen einer Auswertung beim Privatfernsehsender BFM TV vom 1. Juli, dann stimmten in der ersten Runde der jüngsten Parlamentswahlen 57 Prozent der zur Wahl gehenden Industriearbeiter für Kandidatinnen oder Kandidaten des RN. In dieser Gruppe ist allerdings die Stimmenthaltung besonders hoch, ebenso wie der Anteil derjenigen, die mangels Staatsangehörigkeit kein Wahlrecht besitzen. Bei Angestellten waren es 44 Prozent und 22 Prozent bei Hochschulabgängern (plus elf Prozent in dieser Kategorie).
Im nationalen Durchschnitt lag die Partei dabei bei 33,1 Prozent. Auch nahmen ihre Stimmenanteile an beiden Enden der Alterspyramide zu, mit 32 Prozent bei den Unter-35-Jährigen (plus 14 Prozent) und 31 Prozent unter den Rentnerinnen und Rentnern, ein Plus von 19 Prozentpunkten. Bis dahin stimmte diese Alterskohorte zwar überdurchschnittlich konservativ, doch vergleichsweise selten rechtsextrem.
Allerdings kamen letztendlich, trotz der Zuwächse des RN in dieser Kategorie, gerade aus der jungen Generation starke Widerstände gegen den Vormarsch, die bei Demonstrationen wie am 15. Juni aber auch im Stimmverhalten der gegen den RN opponierenden Teile der Jugend zum Ausdruck kamen.