Fehlentscheidungen und Desinteresse
Der NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtages attestiert den Behörden bei der Fahndung nach dem Trio, das später als „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) bekannt wurde, ein „einziges Desaster“. Der Thüringer Verfassungsschutz habe die Gründung und den Aufbau von rechtsextremen Strukturen gar unterstützt und begünstigt.
1800 Seiten umfasst der Abschlussbericht des elfköpfigen Untersuchungsausschusses, der darin die Ergebnisse seiner knapp zweijährigen Arbeit vorlegt. Bereits vor fünf Monaten war ein erster Zwischenbericht erschienen. In dem von allen Fraktionen verabschiedeten Bericht, der am Freitag im Landtag von Thüringen vorgelegt wird, gehen die Ausschussmitglieder hart mit den Behörden ins Gericht. „Eine verhängnisvolle Tendenz zur Verharmlosung und Entpolitisierung rechter Aktivitäten“ werfen sie den politisch Verantwortlichen sowie den kommunalen und Landesbehörden vor. Die lokale Verankerung der Neonazi-Strukturen, ihre zunehmende Radikalisierung bis zum Einsatz terroristischer Mittel sei nicht erkannt und stattdessen der Widerstand gegen rechte Umtriebe vielfach als „Nestbeschmutzung“ diskreditiert worden.
Statt von verharmlosenden „Pannen“ und „Fehlern“ bei der Fahndung nach Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sprechen die Ausschussmitglieder von einem „Fiasko“ oder „Desaster“: Im günstigsten Fall sei ein „schlichtes Desinteresse am Auffinden der drei Gesuchten“ zu spüren. Falsche oder nicht getroffene Entscheidungen hätten sich gehäuft, einfache Standards seien nicht beachtet worden. Dies lasse zumindest den Verdacht zu, das Auffinden der drei Gesuchten sei gezielt sabotiert worden. Mit dieser Aussage erwähnt ein parlamentarisches Untersuchungsgremium erstmals ein mögliches Mitwirken von Behörden am Entstehen des NSU. Ein besonders kritisches Bild zeichnet der Ausschuss vom Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV), das „sachwidrig“ aktiv in die Suche nach den Untergetauchten eingebunden worden sei. Dadurch habe die Behörde die Möglichkeit gehabt, wichtige Informationen zurück zu halten, um eine „übersteigerte Form von Quellenschutz“ umzusetzen. Das TLfV habe die Flüchtigen damit zumindest mittelbar geschützt, heißt es.
Falschinformationen und Verstöße
Zudem habe die Behörde bereits kurz nach dem Untertauchen der drei Neonazis Falschinformationen an das Landeskriminalamt (LKA) weiter geleitet. Trotz etlicher Hinweise aus deren Umfeld auf den möglichen Aufenthaltsort des Trios hätten die Verfassungsschützer dem LKA mitgeteilt, sie befänden sich auf dem Weg nach Belgien oder seien dort bereits angekommen. Auch im weiteren Verlauf wurden Polizei und Justiz nicht oder nur unzureichend unterrichtet. Spätestens im April 2001 wusste das Verfassungsschutzlandesamt laut Angaben des Berichts, dass die Untergetauchten zur Geldbeschaffung Straftaten begingen. Der Ausschuss fand jedoch keine Belege, dass diese Information an das LKA weitergegeben wurde, dies gelte auch für die Info, dass dem Trio Waffen beschafft würden.
Auch bei der Führung von V-Männern verstießen die Thüringer Verfassungsschützer mehrfach gegen damals geltende Grundsätze. Mindestens drei Fälle stuft der Ausschuss als „regelwidrig“ ein und bemängelt, dass erst die hohen Prämien an den damaligen V-Mann und Neonazi Tino Brandt den Auf- und Ausbau des „Thüringer Heimatschutz“ (THS) ermöglicht hätten, aus dessen Reihen auch der NSU stammte.
Geschredderte Akten und fehlende Berichte
Anhand der Berichte von Sachverständigen und dem Aktenstudium zeichnet der Bericht ein Bild von untragbaren Zuständen im Freistaat zu einer Zeit, als die Mitglieder des NSU brutale Morde begingen und mit Überfällen für ihren Lebensunterhalt sorgten. Zwar reagierte die Polizei auf die wachsende Bedrohung in Thüringen und bündelte in den frühen 90er Jahren Strafermittlungen in der Sonderkommission REX beim LKA. Unter anderem führte die Soko auch ein Verfahren gegen den „Thüringer Heimatschutz“ wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Doch die Kommission wurde 1997 aufgelöst und durch eine Ermittlungsgruppe ersetzt, die mit weniger Personal ein wesentlich größeres Themenfeld bearbeiten musste. Als Konsequenz wurde das Verfahren gegen den THS kurz darauf eingestellt, obwohl aus dessen Umfeld weiterhin erhebliche Straftaten begangen wurden.
Trotz akribischer Arbeit war es dem Untersuchungsausschuss aber nicht möglich, zu allen Fragen Stellung zu nehmen. Berichte zu einem V-Mann aus dem „Blood&Honour“-Netzwerk fehlen, andere Unterlagen zu mindestens sieben weiteren V-Männern wurden nach der Selbstenttarnung des NSU geschreddert. Folgerichtig heißt es zu den Verbrechen des NSU und seiner Unterstützer, die „Aufklärung [darf] nicht vor der Verantwortung von Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden Halt“ machen. Nach der Vorlage des Berichts am 22. August im Thüringer Landtag werden zusätzlich die Sondervoten der Fraktionen erwartet.