Fast 1.000 antisemitische Vorfälle seit Hamas-Massaker
Seit dem Hamas-Massaker in Israel Anfang Oktober und dem israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen sind Juden in Deutschland verstärkt antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Das geht aus heute veröffentlichten Berichten der RIAS-Informationsstelle hervor.
Die Zahl antisemitischer Vorfälle ist nach Angaben des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) seit dem 7. Oktober deutlich gestiegen. Das bundesweite Netzwerk kann auf mehrere Meldestellen zurückgreifen, bei denen Betroffene und Zeugen antisemitischer Vorfälle berichten können. Bis zum 9. November, dem Jahrestag der nationalsozialistischen Pogromnacht, zählten die RIAS-Meldestellen in Deutschland 994 antisemitische Vorfälle. Das sind 29 Vorfälle pro Tag und damit 320 Prozent mehr als im Jahresdurchschnitt des gesamten Vorjahres.
Die RIAS-Meldestellen dokumentierten in dem Zeitraum dabei bundesweit drei Fälle extremer Gewalt, 29 Angriffe, 72 gezielte Sachbeschädigungen, 32 Bedrohungen und vier Massenzuschriften. Gemeint sind damit etwa E-Mails mit antisemitischen Inhalten an viele Empfänger. Zudem wurden 854 Fälle registriert mit verletzenden Verhalten, wovon 177 Fälle antisemitische Versammlungen gewesen seien.
Gegen die Opfer der Nazi-Gräuel
Gezielte Sachbeschädigungen oder Schmierereien betreffen laut RIAS sowohl explizit jüdische Einrichtungen, aber auch Gedenkstätten für die Opfer der Nazi-Gräuel. Andererseits wurden Vorfälle registriert, in denen Juden und der Staat Israel mit dem Nationalsozialismus verglichen wurden. Die Fachstellen erwähnen, dass hier „israelbezogener Antisemitismus mit Post-Schoa-Antisemitismus“ verbunden wurden.
Einem zweiten Bericht zufolge ist auch in Berlin die Zahl antisemitischer Vorfälle nach dem Terrorangriff der Hamas sprunghaft angestiegen. Allein zwischen dem Tag des Massakers am 7. Oktober und dem 9. November zählte RIAS Berlin 282 solcher Taten. Das sind im Schnitt gut acht Vorfälle pro Tag in der Hauptstadt. Im Durchschnitt des gesamten Jahres 2022 wurden laut RIAS jedoch lediglich zwei bis drei Vorfälle pro Tag registriert.
Angriff auf Wohnung wegen Israel-Fahne
Im Berichtszeitraum von knapp fünf Wochen registrierte die Stelle nach eigenen Angaben in Berlin einen Vorfall extremer Gewalt, zwölf antisemitische Angriffe und 23 gezielte Sachbeschädigungen. Hinzu kamen zehn Bedrohungen, 235 Fälle verletzenden Verhaltens, darunter 23 Versammlungen, sowie eine Massenzuschrift.
Besonders negativ auf das Lebens- und Sicherheitsgefühl jüdischer Gemeinden und Communities in ganz Deutschland wirken sich demnach antisemitische Äußerungen im Zusammenhang mit den Massakern der Hamas aus. Juden berichteten vermehrt von antisemitischen Vorfällen im Alltag. Besonders beunruhigend seien Vorfälle im Wohnumfeld, so RIAS. 59 solcher Fälle seien bekannt geworden. In Gießen etwa seien zwei Männer gewaltsam in die Wohnung eines Mannes eingedrungen, um eine aus dem Fenster hängende israelische Flagge zu entfernen.
Antisemitische Grundstimmung mit Händen zu greifen
Marina Chernivsky, Geschäftsführerin von OFEK, einer Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung, teilte mit: „Das Ausmaß des Antisemitismus wird durch die Anzahl, aber durch die Qualität der Vorfälle zunehmend deutlich. Einige Ratsuchende berichten, sie können die antisemitische Grundstimmung mit Händen greifen. Andere geben zu, noch nie in ihrem Leben in Deutschland so viel Ablehnung und Verunsicherung erlebt zu haben. […] Alle sozialen Sphären und Interaktion sind davon betroffen.“
Auch an den Hochschulen wird laut RIAS zunehmend antiisraelische Propaganda verbreitet. Es komme zu antisemitischen Schmierereien und Versammlungen sowie zur Verteilung antisemitischer Flugblätter. In Franken sei beispielsweise an einer Hochschule das Bild einer Person, die sich gegen Antisemitismus engagiere, mit Hassparolen beschmiert worden. Insgesamt wurden 37 antisemitische Vorfälle an Hochschulen dokumentiert.
„Zionisten“ als Tarnbegriff und Containerwort
In Oldenburg hat demnach ein Mann an der Universität antisemitische Flyer verteilt. In diesem wurde der Verschwörungsmythos bedient, dass „Zionisten“ für den Nationalsozialismus verantwortlich seien. Zudem wurden „Zionisten“ als „Teufelskinder“ beschrieben. „Zionisten“ ist in solchen Fällen meistens nur ein Tarnbegriff und Containerwort für Juden generell und hat nichts mit der historischen Bedeutung des Zionismus zu tun. Jüdische Studenten berichteten zudem, dass sie von ihren Kommilitonen für das Verhalten Israels verantwortlich gemacht würden und deshalb den Lehrstätten fernblieben.
Benjamin Steinitz, RIAS-Geschäftsführer, teilte dazu mit: „Wenn jüdische Studierende dem Campus aus Sorge vor antisemitischen Erfahrungen fernbleiben, sind ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen aber auch die Hochschulleitungen und organisierten Studierendenschaften in der Pflicht, mit aller Konsequenz gegen Antisemitismus vorzugehen.“
Beratungsanfragen so hoch wie nie
Laut OFEK waren die Hilfeersuchen und Beratungsanfragen in den letzten Wochen so hoch wie noch nie seit Bestehen der Beratungsstelle. Die RIAS-Meldestellen zählten zudem bundesweit 177 antisemitische Versammlungen. Desinformation trage demnach zur Mobilisierung bei, etwa die nicht verifizierten Berichte über einen angeblichen Angriff der israelischen Armee auf das Al-Ahli-Krankenhaus am 17. Oktober. Die Zahl der antisemitischen Kundgebungen habe sich danach im Vergleich zur Vorwoche verdoppelt, so RIAS.
„Die Propagandaerfolge der Hamas haben auf den Zu- und Verlauf von Demonstrationen in Deutschland einen größeren Einfluss als das Agieren des israelischen Militärs selbst“, sagte RIAS-Geschäftsführer Benjamin Steinitz. RIAS nannte in diesem Zusammenhang weitere Beispiele für Antisemitismus im öffentlichen Leben.
Kindergeiseln nur „Zionist Propaganda“?
In Bussen und Bahnen oder in Bars sei etwa „lautstark und ohne Scheu“ über das Töten von Juden fantasiert worden. Plakate, die die Freilassung der israelischen Geiseln fordern, seien abgerissen oder beschmiert worden. Auf einem Plakat in Berlin, das auf eines der nach Gaza verschleppten Kinder aufmerksam machte, wurde etwa der Schriftzug „Zionist Propaganda“ angebracht. Auch Teilnehmer von Mahnwachen für die Opfer des Hamas-Terrorüberfalls seien von Umstehenden antisemitisch angepöbelt worden.
Auch im Internet und in den sozialen Medien wurde laut RIAS das Hamas-Massaker wiederholt legitimiert. Die antisemitische Sprache auf Online-Plattformen werde dabei immer brutaler. Jüdische Nutzer seien dort vermehrt mit „Vernichtungsfantasien“ konfrontiert, hieß es. Diese würden nicht nur in öffentlichen Kommentaren geäußert, sondern erreichten Juden ebenso in Privatnachrichten. RIAS erinnerte zudem an den versuchten Brandanschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum in Berlin-Mitte in der Nacht zum 18. Oktober.