Explosive Stimmung in der braunen Szene
Ein internes VS-Dokument verrät: Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe konnten sich ausgerechnet in einem Zeitraum verradikalisieren, der von den Behörden ohnehin als äußerst gefährlich eingestuft wurde.
Das Verfassungsschutzpapier von 2004 beschäftigte sich mit der Gefahr eines bewaffneten Kampfes durch deutsche Neonazis. Dabei wurden sämtliche bundesweiten Verdachtsfälle im Zeitraum zwischen 1997 und 2004 aufgelistet.
Vor allem die Jahre zwischen 1999 und 2000 zeugten demnach von einer hochexplosiven Stimmung innerhalb der Neonazi-Szene. Heute ist bekannt, dass sich in diesen Jahren auch die Kerntruppe der NSU, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe – seit 1998 aus Thüringen abgetaucht – im militanten Spektrum Westsachsens bewegte. Ihnen wurde Unterschlupf gewährt, sie bekamen Pässe und Zugang in regionale radikale Strukturen. Sie lernten weitere Komplizen und Unterstützer kennen. Allesamt verhaftet in auffälligen Neonazi-Zirkeln. Dass die politische Sozialisierung von drei untergetauchten thüringischen Neonazis im Nachbarbundesland den Geheimdiensten nicht aufgefallen sein soll, wird immer offener in Frage gestellt.
Aus heutiger Sicht betrachtet, klingt die Passage in dem internen Bericht von 2004 „Bilanz und Prognose, über Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt“, nicht nur alarmierend falsch: Demnach sei es den dreien zwar gelungen, sich der Verhaftung zu entziehen, aber eine „wirkungsvolle Unterstützerszene, um einen nachhaltigen Kampf aus dem Untergrund heraus führen zu können“, gebe es nicht.
Im Umfeld des militanten „Blood&Honour“-Netzwerks
Genau in den Jahren 1999 und 2000, als sich die Jenaer Bombenbastler in Chemnitz versteckten, wurden Waffen beschafft und die ersten Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) begangen. Es gab hinsichtlich der drei abgetauchten Kameraden einen regen Austausch zwischen Neonazis beider Bundesländer. Und obwohl sich das Trio direkt im Umfeld des militanten „Blood&Honour“-Netzwerks bewegte, welches zu diesem Zeitpunkt kurz vor dem Verbot stand, blieb es unentdeckt. Kaum vorstellbar.
In dem Dossier von 2004 finden zahlreiche Wehrsportgruppen als auch „Combat 18“ Erwähnung, doch mit der 2000 verbotenen Organisation „Blood&Honour“ wird eine der gefährlichsten Strukturen gar nicht erwähnt. Augenscheinlich wurde sie von den Behörden als reines Musik- und Konzertnetzwerk abgetan. Und dennoch muss es bis zum Verbot intensive Beobachtungen gegeben haben, immerhin kamen zwei der neun wichtigsten Anführer aus der Grenzregion zwischen Thüringen und Sachsen. Thomas S. aus Chemnitz gehörte führend zur B&H-Sektion und zählte zum Kreis der ersten NSU-Unterstützer. Kein Wunder: Einer aus den Reihen des abgetauchten Trios verfügte sogar seit Jahren schon über beste Kontakte zu Blut- und Ehre-Aktivisten. Direkt unter den Augen der Sicherheitsbehörden müssen sich die Jenaer Neonazis im sächsischen Untergrund verradikalisiert haben.
„Feierabendterrorismus“ bleibt möglich
2004 jedoch schätzte das Bundesamt für Verfassungsschutz einen „planmäßigen Kampf aus der Illegalität“ heraus, wie ihn für die „linksextremistische Seite die Rote Armee Fraktion“ führte, als gering ein. Rechtsterroristische Strukturen seien nicht erkennbar. Doch ein von Einzelpersonen oder Kleingruppen geführter „Feierabendterrorismus“ bleibe durchaus möglich, wurde eingeräumt.
Zu den aufgezählten Verdachtsfällen zählten die bayerischen Neonazis Anton Pfahler und Alexander Larrass, die teilweise mit Waffenhandel ihren Lebensunterhalt bestritten. 2011 sorgte das ehemalige Mitglied der „Wehrsportgruppe Hoffmann“, der Waffenfreak Pfahler, für Schlagzeilen, weil in der Nähe einer Waldhütte sein Sohn Selbstmord begangen hatte und der Vater mit der selben Waffe schwer verletzt aufgefunden worden war. Der Tathergang scheint bis heute nicht völlig geklärt.
Auch der spätere NPD-„Sicherheitsexperte“ Peter Naumann fand mit seinen ehemaligen Sprengstoff- und Waffenverstecken Erwähnung. Hinweise auf Mittäter oder Mitwisser bei Naumanns gefährlichen Aktivitäten wie auch die genauen Umstände der Beschaffung des Kriegsmaterials konnten ebenso wenig von den Behörden aufgeklärt werden. Vor acht Jahren wurde die Einschätzung abgegeben, dass Peter Naumann auch heute noch „Gewalt zur Erreichung seiner politischen Ziele“ befürworte.
„Kompromisslose Vorgehensweise“ des Polizistenmörders
In dem Dossier erscheint auch der Fall des Polizistenmörders Kay Diesner. Der militante Neonazi hatte 1997 zunächst in Berlin einen Buchhändler im Haus der damaligen PDS niedergeschossen, später auf der Flucht dann einen Polizeibeamten ermordet. Die „kompromisslose Vorgehensweise“ Diesners habe innerhalb der Szene „erhebliche“ Beachtung gefunden, heißt es. Diesner habe seine Taten als „Freiheitskampf gegen das System“ gerechtfertigt, vermeldeten die Verfassungsschutzbehörden.
Desweiteren wurden militante Gruppen in Sachsen und Berlin dargestellt. Hier kamen die Waffen zum Teil aus der Schweiz.
Thorsten H., ehemaliges Bundesvorstandsmitglied der NPD, zählte zeitweilig zum Umfeld von Verdächtigten, als vermutet wurde, dass sich Ende der 90er Jahre im Raum Göttingen eine terroristische Vereinigung bilden könnte. Demnach gehörten zwei spätere NPD-Funktionäre zum Kern der observierten Truppe. Das BKA wurde mit den Ermittlungen beauftragt. Sämtliche Verfahren gegen die Göttinger Neonazis wurden jedoch 2000 eingestellt.
2000 wurde in Brandenburg ein halbautomatisches Gewehr mit Schalldämpfer und Zielfernrohr beschlagnahmt. Besorgt hatte es den Neonazis unter anderem ein Berliner Rechtsextremist aus dem engen Umfeld der Rechtsrock-Band „Landser“. In diesem Zusammenhang gab es dann Verurteilungen gegen einen weiteren Neonazi wegen der Planung und Vorbereitung eines Sprengstoffanschlages.
„Kampf gegen unarische Überbevölkerung“
Dass in diesen Jahren eine hochexplosive Stimmung herrschte, bewiesen nicht zuletzt zwei weitere Parteifunktionäre aus Thüringen. Patrick Wieschke, heute NPD-Bundesvorstandsmitglied, sowie der Neonazi Danny Pfotenhauer wurden als Unterstützer einer Sprengstoffattacke 2000 in Eisenach aufgeführt. Anschlagsziel war ein leerstehender türkischer Imbiss.
Im Juni 2000 überfiel dann ein ehemaliges Mitglied des Kommandos Spezialkräfte (KSK), der Neonazi Andre Chladek, eine Bundeswehreinheit während einer Übung auf einem Truppenübungsplatz in Baden-Württemberg, er erbeutete sechs Pistolen und 1550 Schuss Munition. Später floh Chladek nach Gera und wurde gestellt. Im selben Jahr machte eine militante „Nationale Bewegung“ mit rassistischer Hetze auf sich aufmerksam. „Kampf gegen unarische Überbevölkerung und Kanackenfraß“, propagierte die anonyme Gruppe, deren Drahtzieher für Brandanschläge gegen ausländische Imbissbesitzer in Brandenburg verantwortlich gemacht wurden. Es gab insgesamt 16 Straftaten und 2000 Hinweise auf die Täter – und doch lagen keine konkreten Erkenntnisse vor.
So reihen sich Gruppe an Gruppe, Waffenfunde an Sprengstoffpläne. Immer wieder tauchen in dem Papier von 2004 auch die Namen heute sehr aktiver Neonazis auf. Unter anderem wurde gegen den Redner beim Aufmarsch in Bad Nenndorf 2011, Sebastian Dahl, im Zusammenhang mit einer Gruppe ermittelt, die angeblich vor zehn Jahren Anschläge gegen türkische und jüdische Einrichtungen plante. Weil Dahl eine Überwachungsmaßnahme seiner Wohnung entdeckte, konnten keine Erkenntnisse gewonnen werden, heißt es. Die Behörden beschränkten sich auf so genannte Gefährderansprachen. Dahl und seine Mitstreiter bestritten die ihnen vorgeworfenen Pläne.
Vor Initiator einer Wehrsportübung gewarnt
Ebenso beschäftigen sich die Behörden mit den „Combat 18“-Strukturen in Pinneberg und im Rems-Murr-Kreis. Im Hinblick auf die verübten Anschläge des Netzwerkes in Großbritannien resümierten die deutschen Ermittler, dass es in der Bundesrepublik weniger um Anschlagspläne als um Beherrschung des rechtsextremen Musikmarktes ginge. Ein terroristisches Netzwerk C 18 gebe es nicht.
2003 wurden Neonazis in Ostsachsen wegen illegalen Waffenhandels verurteilt. Im selben Jahr gab es in Bayern einen Brandanschlag auf das Auto des Vaters eines antifaschistischen Aktivisten. Die Tat wurde vorsichtig der wenig später verbotenen „Fränkischen Aktionsfront“ zugeordnet. Zudem wurde vermutet, dass gezielte gewaltsame Übergriffe gegen linke Objekte in den Jahren 2001 und 2002 auf das Konto von Neonazis aus den mittelbaren Reihen um deren fränkische Anführer Matthias Fischer und Norman Kempken gingen.
Auch die „Kameradschaft Frankfurt“ um Falco Schüssler wurde erwähnt und zeitweilig verdächtigt. Schüssler sitzt heute im Landesvorstand der NPD in Bayern. 2003 wurde vor ihm als Initiator einer Wehrsportübung gewarnt.
2000 verdoppelten sich die Funde von Waffen, Munition und Sprengstoff im Vergleich zum Vorjahr. 48 Vorfälle wurden verzeichnet. Militärische Übungen in Wehrsportgruppen wurden als mögliche Vorstufe für rechtsterroristische Aktivitäten eingestuft. Zu den registrierten Vorfällen gehörte auch der Einsatz einer 20-köpfigen Neonazi-Truppe im Waldgebiet um Jamel in Mecklenburg-Vorpommern.
15 Homepages mit Bombenbauanleitung registriert
Als Vorbilder für gewaltorientierte Strategien der Neonazis wurden von den Behörden nicht nur der „leaderless resistance“ (führerloser Widerstand) ausgemacht, sondern auch das „Werwolfkonzept“ mit der Strategie eines Partisanenkrieges. Eine scheinbar bürgerliche Existenz sollte die Basis bilden, um aus dem Verborgenen heraus operieren zu können, heißt es. Waffen sollten im Ausland besorgt werden und zellenartige Widerstandsgruppen netzartig die Bundesrepublik überziehen.
In den Jahren 1999 und 2000 hatten zudem mehrere neonazistische Publikationen zum bewaffneten Kampf aufgefordert. Unter anderem hieß es im „Hamburger Sturm“: „Man darf einfach nicht vergessen, dass wir im Krieg sind mit diesem System und da gehen nun mal einige Bullen oder sonstige Feinde drauf.“
Und zwischen 1997 und 2004 wurden 15 Homepages mit Bombenbauanleitungen registriert. Als Fazit der Studie werden der Einsatz eines verdeckten Ermittlers im Umfeld der „Kameradschaft Süd“ in München und die Exekutivmaßnahmen gegen deren Anführer Martin Wiese 2003 lobend erwähnt, da sie Eindruck in der Szene hinterlassen hätten.