Rezension

Entwicklung rechtsextremistischer Gewaltpotentiale in Hessen

Die Publikation „Rechter Terror in Hessen. Geschichte, Akteure, Orte“ liefert eine informative Chronologie zum Thema. Das Buch ist damit auch gut als Nachschlagewerk nutzbar, ignoriert aber gelegentlich die analytische Forschung zum Rechtsterrorismus.

Montag, 24. April 2023
Armin Pfahl-Traughber
Buchcover "Rechter Terror in Hessen"
Buchcover "Rechter Terror in Hessen"

Die Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke und die rassistischen Morde an neun Menschen in Hanau stehen exemplarisch dafür, dass auch das Bundesland Hessen immer wieder von brutalen rechtsextremistischen Gewalthandlungen erschüttert wurde. Es sticht in dieser Hinsicht keineswegs unter anderen Ländern hervor, gleichwohl verdient die dortige historische Entwicklung des rechtsextremistischen Gewaltpotentials kritisches Interesse.

Eine darauf bezogene historische Chronologie legen Sascha Schmidt und Yvonne Weyrauch, beide beim „Beratungsnetzwerk Hessen – gemeinsam für Demokratie und gegen Rechtsextremismus“ tätig, mit „Rechter Terror in Hessen. Geschichte, Akteure, Orte“ als Titel vor. Bereits die Formulierung wirkt etwas schief, geht doch „rechte Gewalt“ bzw. „rechter Terrorismus“ aus der Gesellschaft von unten aus und „Terror“ als diktatorisches Repressionsmittel von oben vom Staat aus. Aber leider findet sich eine derart schiefe Begriffswahl auch in den Medien und der Politik, gelegentlich gar in der Wissenschaft.

Chronologie rechtsextremistischer Gewalt über die Jahrzehnte

In der Einleitung wird dann aber deutlich, dass es nicht nur um Rechtsterrorismus gehen soll. Gleichwohl geraten die Begriffe und Kategorien dort ein wenig durcheinander, was dann Einordnungen von Ereignissen etwas erschwert. Es geht den Autoren um die historische Rekonstruktion schwerer „Gewalttaten, wie Morde, Mordversuche, Brand- und Sprengstoffanschläge, Körperverletzungen, aber auch besonders schwerwiegende Formen von Sachbeschädigungen mit rechten Hintergrund, die in Hessen zwischen 1949 und 2020 verübt wurden“.

Entsprechend gliedern sie auch ihr Buch chronologisch nach Jahrzehnten. Ihre Darstellung setzt in den 1950er Jahren ein und beschreibt die damaligen gewaltorientierten Gruppen, wonach dann die in den 1970er Jahren aufkommenden frühen rechtsterroristischen Gruppen ein Thema sind.

Von den „Deutschen Aktionsgruppen“ bis zum Lübcke-Mord

Für die 1980er Jahren gilt, dass mit den „Deutschen Aktionsgruppen“ und der „Hepp-Kexel-Gruppe“ insbesondere in Hessen die bedeutsamsten rechtsterroristischen Gruppen entstanden waren. Sie sind auch bei Schmidt und Weyrauch ausführlicher ein Thema. Für die 1990er Jahre sprechen sie demgegenüber etwas begrifflich schief von „rassistischem Straßenterror“, während die 2000er Jahre ohne öffentliches Wissen vom NSU-Terrorismus geprägt waren, wovon der NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel ebenfalls zeugte.

Und dann findet auch die Entwicklung rechtsextremistischer Gewalt in den 2010er Jahren entsprechendes Interesse, wobei die einleitend erwähnten Fälle der Ermordung von Walter Lübcke und die Morde in Hanau erschreckende Vorfälle waren. Bilanzierend wird noch eine vergleichende Einschätzung bezogen auf Hessen vorgenommen. Dabei fällt der Blick auf die Hochphasen, die Motive und die Opfer. Es folgt auch eine Differenzierung der Tätertypen, um die Dimensionen des Gefahrenpotentials zu verdeutlichen.

Informatives Nachschlagewerk, aber mit analytischen Mängeln

Die einzelnen Darstellungen, die aus dem Band ein Handbuch und Nachschlagewerk machen, stehen für dessen Stärken. Selbst Gruppen wie die „Freien Kräfte Schwalm-Eder“ mit ihren brutalen Handlungen sind ausführlicher ein Thema. Umso bedauerlicher sind die begrifflichen und konzeptionellen Defizite in der Einleitung, wo der neuere Forschungsstand zum Rechtsterrorismus nicht näher berücksichtigt wird. Es gibt auch etwas erstaunliche Einschätzungen, wonach etwa abgestritten wird, dass ein Einzeltäter eben keine Gruppentat im Sinne des Terrorismus vollziehe.

Noch mehr erstaunt, dass eine Feststellung von 1999, wonach es damals keine bedeutsamen rechtsterroristischen Organisationen gab, mit dem Hinweis auf den NSU, der aber erst ab 2000 mörderisch-terroristisch aktiv wurde, kritisiert werden soll. Derartige analytische Defizite erschweren auch differenzierte Einordnungen. Diese Erkenntnis ist umso bedauerlicher, da man es hier mit einem informativen und nützlichen Nachschlagewerk zum Thema zu tun hat.

Sascha Schmidt/Yvonne Weyrauch, Rechter Terror in Hessen. Geschichte, Akteure, Orte, Frankfurt/M. 2023 (Wochenschau-Verlag), 399 Seiten

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