„Ein Gespräch mit Martin Sellner“ - Interview mit dem Identitären als Selbstdarstellung
Für ein Buchprojekt hat der Berliner Politikwissenschaftler Martin Wagener ein Interview mit Martin Sellner, dem Kopf der „Identitären Bewegung“, geführt. Mangels kritischen Nachfragen wurde daraus eine apologetische Selbstdarstellung.
Interviews können mal mehr affirmativ, mal mehr kritisch geführt werden. Es kann auch pseudo-kritische Interviews geben, wobei dem Gesprächspartner bestimmte Einwände von anderer Seite vorgetragen werden und die Person darauf in einem dann aber nicht mehr hinterfragten verteidigenden Sinne antwortet. Um ein solches Gespräch handelt es in einer kurzen Broschüre. Veröffentlicht hat sie der Berliner Politikwissenschaftler Martin Wagener, der eine Professur für Internationale Beziehungen innehat.
In seinem gerade erschienenen Buch „Kulturkampf um das Volk, der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen“ beschäftigte er sich auch mit der Frage: Ist die Identitäre Bewegung eindeutig als rechtsextremistisch einzuordnen? In diesem Kontext führte er ein Interview mit Martin Sellner, der als führender Aktivist eben jener Identitären Bewegung gilt. Es erschien als Begleitheft zu dem Buch und geht auf ein Gespräch im Juli 2020 in Wien zurück. Antworten und Fragestellung sollen hier kritisch untersucht werden.
Fehlende Fragen zu Gewaltverständnis und Neonazi-Hintergründen
Zunächst fällt auf, dass die interviewte Person nicht näher vorgestellt wird. Dabei verdient auch Interesse, dass Sellner aus der Neonazi-Szene stammt. Einen derartigen Hintergrund weisen noch andere Aktivisten der Identitären auf. Insofern wäre die Frage danach, worin Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu diesen politischen Zusammenhängen bestehen, interessant gewesen. Stattdessen beschwört der Interviewte ohne wirklich kritische Nachfragen, dass es sich bei den Identitären um eine demokratische und gewaltfreie Bewegung handele, die mit Rechtsextremismus nichts zu tun habe.
Sellner wird auch gebeten, den Begriff „Rechtsextremismus“ zu definieren. Dazu bemerkt er: Es handele sich um „ein im rechten politischen Spektrum angesiedeltes Bestreben, die derzeitige Staats- und Verfassungsordnung mit Gewalt zu stürzen“. Demnach wird „Extremismus“ hier an „Gewalt“ geknüpft. Diese Auffassung verkennt aber die Existenz eines legalistischen Rechtsextremismus, was der Interviewer dann so unkommentiert stehen lässt.
Gewaltästhetik und Kampfsport als Nicht-Themen
Gleiches gilt für die von Sellner mehrfach bekundete Distanzierung von Gewalt, die nicht hinsichtlich ihres grundsätzlichen oder instrumentellen Charakters näher hinterfragt wird. Denn immerhin gibt es bei den Identitären eine Faszination für die Ästhetisierung der Gewalt, die in dem dort sehr beliebten Film „300“ vermittelt wird, oder für das Einüben von Kampfsportaktivitäten, welche in auf YouTube eingestellten eigenen Werbevideos zu sehen sind.
Auch erinnern die Identitären mit ihren „Reconquista“-Rufen an eine gewalttätige Vertreibung von Muslimen, wobei historische Eroberung und gegenwärtige Zuwanderung gleichgesetzt werden. Derartige Einsichten hätten eigentlich zu kritischen Nachfragen motivieren können. Demgegenüber wird das Interview dominiert von Sellners Einwänden, die ihn als von gesellschaftlichen Gruppen und staatlichen Institutionen politisch Verfolgten dastehen lassen. Auch hier bleibt das von Sellner erhoffte publizistische Wunschbild stehen.
„Ethnopluralismus“-Folgen ohne kritische Rückfragen
Lediglich bezüglich der Auffassungen zum „Ethnopluralismus“ der Identitären erfolgt eine Nachfrage, die aber nicht konsequent weiter geführt wird. Der Interviewer äußert: „Sollten Migranten mit der Staatsbürgerschaft Österreichs im Sinne des Ansatzes des Ethnopluralimus das Land langfristig verlassen?“ Sellner antwortet: „Nein. Wer das Land verlassen sollte – langfristig -, sind in meinen Augen nichtassimilierte Menschen, die sich nicht mit unserer Geschichte und Identität identifizieren und diese sogar ablehnen und bekämpfen.“
Indessen sieht die Auffassung von „Ethnopluralismus“ konstitutiv vor, dass Angehörige unterschiedlicher Ethnien und Gruppen in unterschiedlichen Räumen leben sollten. In dem dafür aus der Blickrichtung der Neuen Rechten von Martin Lichtmesz vorgelegten neueren Buch „Ethnopluralismus. Kritik und Verteidigung“ ist denn auch davon die Rede, „dass es konfliktmindernd und der freien Entfaltung der Völker förderlich sei, wenn sie separat voneinander leben …“.
„Gemeinschaft“ ,mit „ethnokultureller Identität“ nicht hinterfragt
Im Interview spricht Sellner von einer „Gemeinschaft, die durch ethnokulturelle Identität vereint wird“. Doch was sind genau die Definitionsmerkmale für ethnische und kulturelle Identität? Ab wann gehören Individuen dazu, ab wann nicht? Und wie würde man Individuen, die nicht diese Kriterien erfüllen aus dem Land entfernen wollen? All diese Fragen werden Sellner von Wagener nicht gestellt. Der Interviewer gibt sich mit diffusen Anmerkungen über „nicht assimilierte Menschen“ zufrieden.
Indessen hatte er zuvor das für Sellner schmeichelhafte Szenario, er werde nach einem FPÖ-Sieg österreichischer Innenminister, entwickelt. Dann würde aus der diffusen Ideologie eine reale Praxis werden. Und nach deren Inhalten und Konsequenzen hätte dann gefragt werden müssen. Dies geschieht indessen auch hier nicht. Wie erklärt sich nun diese Ausrichtung des Interviews? Es mag an fehlendem Fachwissen, ideologischer Nähe oder naivem Umgang liegen. Es kann auch eine Kombination von all diesen Prägungen gegeben haben.