Henstedt-Ulzburg-Prozess
Ein Entlastungszeuge mit rechter Schlagseite
Im Prozess um die mutmaßliche Autoattacke auf Anti-AfD-Demonstrant*innen in Henstedt-Ulzburg wird erstmals einer der damaligen Begleiter des Angeklagten vernommen. Er versucht, Melvin S. um Biegen und Brechen zu entlasten – und stilisiert ihn sogar zum „Helden“.

Der junge Mann auf dem Zeugenstuhl trägt zum adretten Anzug einen messerscharf gezogenen Seitenscheitel. Und er scheint sich für diesen Montagmorgen im Kieler Landgericht etwas vorgenommen zu haben: für seinen Freund Melvin S., der auf der Anklagebank sitzt, weil er Teilnehmer*innen einer Kundgebung gegen die AfD gezielt mit einem Pick-up angefahren haben soll, in die Bresche zu springen.
In derart unbedingter Loyalität steht der 21-Jährige zu seinem Kumpel, dass es gerade einmal eine Stunde dauert, bis er die erste eindringliche Ermahnung des Gerichts kassiert: „Ich will Sie gerne noch einmal an Ihre Wahrheitspflicht erinnern“, sagt die Strafkammervorsitzende Maja Brommann. Freundschaft, der Wunsch zu helfen, alles schön und gut. „Aber das führt nicht dazu, dass Sie hier die Unwahrheit sagen dürfen.“
Der Zeuge jedoch bleibt bei seiner Erzählung, die den Mann, dem die Staatsanwaltschaft versuchten Totschlag vorwirft, nicht nur zum Opfer macht, sondern fast schon zum Märtyrer. „Ich finde“, sagt er irgendwann und ein Raunen geht durch den Saal, „er hat das so gelöst, dass möglichst wenig Schaden entstanden ist. Es hätte schlimmer ausgehen können.“
Drei Gegendemonstrant*innen hat Melvin S. im Oktober 2020 mit dem tonnenschweren Auto seiner Mutter angefahren und verletzt, als die AfD im Bürgerhaus von Henstedt-Ulzburg, einer schleswig-holsteinischen Gemeinde vor den Toren Hamburgs, eine Veranstaltung abhielt. Ein Vierter konnte sich mit einem Sprung zur Seite gerade noch retten. Das bestreitet nicht einmal der Angeklagte selbst, auch wenn der 22-Jährige wegen einer angeblichen Erinnerungslücke nicht mehr alles so genau wissen will, was an jenem Tag passiert ist. Außer dass er den VW Amarok nicht in böser Absicht auf den Gehsteig gesteuert habe, sondern in einer „Panikreaktion“: Einer seiner drei Begleiter sei von „Vermummten“ angegriffen worden, da habe er irgendwie helfen wollen.
Ob es diesen Angriff tatsächlich gegeben hat, ist nach dem derzeitigen Stand der Beweisaufnahme noch alles andere als sicher. Umso dramatischer schildert der angehende Mediengestalter, der jetzt als erster der drei damaligen Begleiter des Angeklagten in den Zeugenstand treten musste, was geschehen sein soll. Erst habe sie eine „bedrohlich“ wirkende Rollstuhlfahrerin aufgefordert, die Veranstaltung zu verlassen, dann seien sie von einer „dunkel bedrohlichen Gruppe“ verfolgt wurden, die sich unterwegs vermummt und Quarzhandschuhe übergestreift habe. „Da haben wir uns sehr doll gefürchtet.“
Und schließlich sei einer von ihnen, der es nicht rechtzeitig zu seinem Auto geschafft habe, von mehreren Leuten „brutalst“ ins Gesicht geschlagen worden. Grundlos. „Ich hatte fast schon Angst, dass sie ihn umbringen.“ Allein um ihnen Einhalt zu gebieten, sei Melvin S. auf den Gehweg gefahren, „allerdings vorsichtig und langsam“, wie der Zeuge betont. Ein Gutachten kam indes zum Ergebnis, dass der Angeklagte den Pick-up auf rund 30 km/h beschleunigt haben muss. Die Betroffenen der mutmaßlichen Autoattacke leiden, wie sie im Prozess berichtet haben, noch heute unter den Folgen.
Chris Ares "und noch rechtere Sachen"
Doch dass Melvin S. Menschen angefahren hat, dass er den Wagen bei seiner Verfolgungsjagd auch noch auf den Grünstreifen lenkte, davon will sein Freund, der mit ihm im Auto saß, nichts bemerkt haben. Dafür berichtet er wortreich von Tritten und Schlägen gegen das Fahrzeug. Warum er dann bei der Polizei und in Chats mit Freunden noch etwas ganz anderes gesagt hatte? „Ich nehme an, dass das der Schock war.“
Melvin S. gehörte damals der AfD an, sein Kumpel war nach eigenen Angaben Mitglied der CDU. Er besuchte aber, wie er schließlich etwas widerwillig zugibt, auch einen Stammtisch der AfD. Und er interessierte sich für eine Mitgliedschaft in der extrem rechten Gymnasialen Burschenschaft Germania zu Kiel, die er auch Melvin S. empfahl: „Ich habe ihm erzählt, dass da nette Leute sind, die er mögen würde – konservativ.“ Im Whatsapp-Chat mit seinem Freund war er deutlicher geworden. Da pries er die Pennälerverbindung, weil sie dieselbe Musik höre „wie wir“. Den „Identitären“-Rapper Chris Ares zum Beispiel – „und noch rechtere Sachen“.
Auch über das Abreißen linker Plakate und über den Hass auf Linke und „Kanaken“ chattete er mit dem Angeklagten. Daran, sagt der Zeuge, könne er sich nicht mehr erinnern. Genauso wenig wie daran, dass Melvin S. am Rande der Anti-AfD-Kundgebung mit einer Flasche „Reichsbrause“ – einer von dem thüringischen Neonazi Tommy Frenck vertriebenen Limonade im NS-Design – posierte oder dass ein anderer Begleiter Aufkleber des extrem rechten Propagandanetzwerks „Ein Prozent“ dabei hatte.
Einen Tag nach der mutmaßlichen Tat schrieb er dem Angeklagten: „Weißt du, eigentlich bist du sogar ein Held. Einer von nicht vielen Visionären. Andere können nur reden, nicht du.“ Schmallippig erklärt der Zeuge: Das würde er heute wohl anders ausdrücken. Wirklich zurücknehmen aber mag er es nicht.
AfD zieht es für Landesparteitag zum Tatort
Was für ihn noch immer eine Heldentat zu sein scheint, galt der Polizei zunächst lediglich als Unfall. Später soll es die Staatsanwaltschaft gewesen sein, die auf die Frage, ob wegen eines versuchten Tötungsdelikts ermittelt werden sollte, erst einmal abwinkte. So jedenfalls hat es ein Polizeibeamter vor Gericht geschildert. Die Vernehmung des so offensiv als Entlastungszeuge auftretenden jungen Mannes förderte nun eine weitere Erstaunlichkeit zutage: Als Melvin S. und seine drei Begleiter am Abend des Tattags zu den Ereignissen am Bürgerhaus befragt werden sollten, wurden sie auf der örtlichen Polizeistation zum Warten nebeneinander auf eine Stuhlreihe gesetzt, „eine Stunde lang oder so“, schätzt der Zeuge. Genug Zeit, um Aussagen abzusprechen. Aber, beteuert der junge Mann, über das gerade Erlebte habe man da kaum gesprochen.
Derweil will die schleswig-holsteinische AfD am 16. September ihren Landesparteitag abhalten, ausgerechnet in Henstedt-Ulzburg, wieder im Bürgerhaus. Ein Versuch der Gemeinde, das zu verhindern, wurde gerade vom Verwaltungsgericht in Schleswig gekippt.