König ohne Thron:
Die gar nicht tragische Figur des Ferhat S.
Kaum ein Aktivist hat die rechtsextreme Szene in den vergangenen Monaten so aufgewühlt und gespalten wie der Aachener Ferhat Sentürk. Inzwischen schlägt dem Selbstdarsteller und Egomanen, der sich gerne in einer Führungsrolle sieht, Hass und Rassismus entgegen. Verbrannte Erde zu hinterlassen, gehört aber zu seinen leichtesten Übungen.

Die Szene am 18. Januar kurz vor dem Neonazi-Aufmarsch in Aachen ist exemplarisch für Sentürk: Als der Mann mit türkischen Wurzeln mit zwei Handvoll Gleichgesinnten zu seiner eigenen Versammlung anrückt, jubeln ihm die schon wartenden, meist noch sehr jungen Rechtsextremen und Neonazis zu. „Ferhat, Ferhat!“-Rufe ertönen. Sentürk strahlt. Erst begrüßt er viele, oft weit angereiste „Patrioten“ mit Handschlag. Dann gibt er den wartenden Journalisten eine Reihe von Interviews, geht ganz in seiner Rolle als Anführer, als selbsternannter „Rechtspopulist“ und Agitator auf.
Frühere und spätere Aufmärsche in Berlin verlaufen ähnlich. Sentürk sucht förmlich die Journalisten, die ihn als Clickbaiting-Paradiesvogel in einer Welt des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit ansehen – und ihm damit genau das geben, das ihn berauscht. Medienpräsenz, Schlagzeilen, Interviews und heroische Fotos wirken auf ihn wie Heroin. Eine andere exemplarische Szene spielt sich am 22. März in Berlin ab. Als der blockierte Aufmarsch nur rund 100 Meter weit ziehen darf, steht Sentürk auf den von einem PKW gezogenen Pritschenwagen und wirkt plötzlich wie Charlton Heston in Ben Hur beim Wagenrennen oder wie ein römischer Heerführer auf seinem Streitwagen.
„King Sentürk“ rappt
Unter einem König machte es Sentürk eher selten. Als Hip-Hopper sang er einst, dass es egal sei, ob man reich oder arm sei, Menschen verdienten „Respekt“ und jeder solle „so leben, wie er will“. Das war am Samstag, 17. November 2012, als in der Offenen Tür (OT) der Pfarrei St. Josef und Fronleichnam ein antirassistischer Hip-Hop-Contest über die Bühne ging. Die OT Josefshaus ist in Aachen für ihre multikulturelle Arbeit bekannt, der Contest wurde 2012 von einem Demokratieprojekt finanziell sehr gut gefördert.
Während alle anderen Musiker damals in normaler Kleidung auf die Bühne kamen, trug Sentürk ein selbst gedrucktes T-Shirt mit seinem Sängernamen: „King Sentürk“. Später zitieren ihn die Aachener Nachrichten (AN): Er habe „zwar schon Rap-Erfahrung, aber die Aufgabenstellung war eine positive Herausforderung.“ Einer seiner anderen Songs hieß in jenen Tagen „Es fallen Tränen“. Das Lied war teils sozialpopulistisch, „King Sentürk“ rappte: „Das Geld ist das Gift, das die Menschheit schon lange fickt! […] Die Straßen gegen die Regierung, keiner dieser Leute kriegt uns je um. Wir sind stabil…“
Der Mann mit der „abartigen Kopftreter-Frisur“
Zuvor hatte er bereits an einem OT-Projekt im Rahmen von Gewaltprävention und Zivilcourage teilgenommen. Am 22. September 2013 sollte er beim renommierten „Tag der Integration“ in einem großen Kongresszentrum in Aachen auftreten. Als dort schon Mitte 2012 der große Bildungstag „Was geht?!“ mit hunderten Schülern stattfand, wurde der 18-Jährige zusammen mit fünf weiteren Jugendlichen für die AN kurz interviewt. Sentürk suchte bereits 2012 mediale Reichweite.
Als das Ostviertel mit seinem hohen Migrantenanteil 2013 als Problemviertel in die Schlagzeilen geriet, organisierten die AN eine Podiumsdiskussion mit Politikern, dem Polizeipräsidenten und Engagierten. Als eine Seniorin im Publikum über Jugendkriminalität und Drogen sprach, saß Sentürk daneben und sagte zu ihr: „Dass jemand eine ältere Dame bedroht, das gibt es in unserer Kultur nicht.“ Das rechtsextreme, islamfeindliche und rassistische Hetzblog „Politically Incorrect“ (PI-News) griff den AN-Artikel dazu erst 2014 auf. Kommentartoren attestieren Sentürk damals eine „abartige Kopftreter-Frisur“, er sei ein „Türkenbengel“ und solle seine „affige Brikettfrisur am Bosporus nachschneiden“ lassen und gleich dort bleiben.
Plötzlich Influencer und Rechtspopulist
Nach einer Lücke im Lebenslauf, um die sich einige unvorteilhafte Gerüchte und Hinweise ranken, wird Sentürk um den Jahreswechsel 2023/2024 als Möchtegern-Influencer aktiv. Erste Videos tauchen auf, in denen er vor allem gegen die Grünen wettert. Schon da teilt er radikal aus – löscht Videos alsbald aber auch wieder. Am Rande der Proteste gegen die AfD Anfang 2024 tritt Sentürk dann provokativ mit AfD-Funktionären aus dem Raum Aachen auf. Er ist einfaches Parteimitglied und strebt rasch höhere regionale Posten an. Sein so erreichtes Amt – nur! – als Beisitzer im Vorstand des Stadtverbands Aachen legt er bald im Streit nieder.
Er gilt unter AfD-Vertretern zunächst als hoffnungsvoller Influencer um junge Menschen anzusprechen, als Migrant dient er als Alibi bei Rassismusvorwürfen. Doch bald gilt Sentürk auch als unkontrollierbar. Er will sich offenbar eine Hausmacht sichern, träumt vom Einzug in den Stadtrat. Er nimmt Kontakt zur „Jungen Alternative“ (JA) auf und will deren Kreisverband Aachen wiederbeleben, Matthias Helferich und Irmhild Boßdorf sollen Pate stehen. In atemberaubendem Tempo zerstreitet sich Sentürk mit Gegnern und Teilen der eigenen Gefolgschaft in der AfD. Ein gegen ihn eingeleitetes Parteiausschlussverfahren stoppt er Ende 2024 durch den eigenen Austritt – jedoch erst nach den Handgreiflichkeiten auf einem Parteitag.
Kungeln mit völkischen Rassisten
Sentürk inszeniert sich als Opfer von Intrigen und kritisiert nun gegenüber Medienvertretern den Rassismus in der AfD – alsbald organisiert er dann seine Aufmärsche mit Neonazis in Berlin und Aachen. So generiert er wiederholt mediale Reichweite, so kommt er zu seinem eher ungewöhnlichen Rausch. Doch auch unter einigen Rechtsextremen gilt Sentürk bald schon als hochproblematisch. In Aachen ebnet ihm am 18. Januar dennoch ein massives Polizeiaufgebot mit zum Teil sehr hartem, bisweilen brutalem Vorgehen gegen Sitzblockaden den Weg. In Berlin scheitert er zweimal am Gegenprotest, einmal ermöglicht die Polizei ihm ähnlich wie in Aachen einen Aufmarsch.
Selbst totale Niederlagen verwandelt er rhetorisch innerhalb von Sekunden in Erfolge – Vorbild Donald Trump. Mutmaßlich AfD-Insider aus dem Raum Aachen stechen dann aber dem rechtspopulistischen Portal „Nius“ durch, dass Sentürk möglicherweise ein V-Mann, Spitzel oder Agent Provocateur sein könnte. Lanciert wird in dem „Nius“-Beitrag am 27. März zudem abermals, dass er bei den türkischen Rechtsextremisten der „Grauen Wölfe“ aktiv gewesen sei – was Sentürk bestreitet. Zugleich verbreitet der Aachener antisemitische Inhalte auf seinen Kanälen in den sozialen Netzwerken.
Wider AfD und rechtes Spektrum
Am 27. März postet er auf seinem Telegram-Kanal: „Die Wahrheit, die sie verbergen! Fast alle Medien stehen unter zionistischer Kontrolle und arbeiten Hand in Hand mit der Politik. Medien Politik Ultrakapitalismus: Das trojanische Pferd unserer Zeit!“ Einen Tag später beginnt offenbar der Rachefeldzug für den „Nius“-Beitrag. Sentürk verbreitet nun AfD-Interna in sozialen Netzwerken und will sie so auch an Medienvertreter durchstechen. Er distanziert sich erneut von der AfD und „insgesamt vom rechten Spektrum“.
Bereits im Dezember 2024 hatte die Antifa Jugend Aachen öffentlich gemacht, dass Sentürk ihr über einen Fake-Account und später über einen echten Account in sozialen Netzwerken AfD-Interna zugespielt hatte. Offenbar hatte er auf massive antifaschistische Proteste gegen einen AfD-Parteitag in einem großen Hotel gehofft. Aber nicht die wenigen Antifaschisten vor dem Hotel machen an dem Tag Ärger – Sentürk macht diesen. Die Polizei muss Handgreiflichkeiten zwischen ihm und Parteifreunden beenden. Ein später von Sentürk selbst publiziertes Video zeigt ihn als wütenden und unbeherrschten Schreihals.
Tragikomische Figur ohne Mitleid
Schon seit Januar distanzierten sich immer mehr rechtsextremistische und neonazistische Kader intern und extern von Sentürk und warnten vor ihm. Der Aufmarsch in Berlin von rund 850 Rechtsextremisten und Neonazis sowie der Auftritt von Hannes Ostendorf von „Kategorie C“ (KC) am 22. März war dennoch medial sein größter Erfolg – und real zugleich eine große Niederlage. Offenbar aus Rache an den Behörden, der Polizei und den Gegendemonstranten wollte er am 12. April zunächst zehn Kundgebungen an verschiedenen Orten abhalten und die Hauptstadt sozusagen lahm legen.
Doch die Warnungen häuften sich. Intern wurde der Aufmarsch zeitnah von vorherigen Kooperationspartnern aus der rechtsextremen Szene als „abgesagt“ deklariert. Die nordrhein-westfälischen Neonazis hatten schon länger mit Sentürk gebrochen und ihm quasi untersagt, an ihren Demonstrationen teilzunehmen oder Rederecht zu beanspruchen. In Chats und Beiträgen in den sozialen Medien wird Sentürk nun als „Hetzer“ gegen AfD und „Kameraden“, als „Verräter“, „Osmane" und „Türke“, als „äußerst fragwürdige Figur“ und „Sandneger“ bezeichnet. Sentürk erlebt nun den Rassismus seiner früheren „Kameraden“, den er in Interviews nicht müde wurde zu leugnen – den er allerdings 2014 schon bei „PI-News“ erfahren hat.
„König“ ohne „Volk“ und ohne „Reich“
Ruhe geben wird der selbsternannte „König“ allerdings wohl kaum, auch wenn die „Deutsche Jugend Front“ (DJF) ihm via Instagram attestierte, „weder eine Führungskraft noch jemand der anführt“ zu sein. Andere frühere Mitstreiter beschreiben ihn hingegen zum einen als charismatischen Menschen, der Kritik an seiner Person mit rührseligen bis weinerlichen Geschichten erfolgreich abbügeln will. Andere sprechen hingegen von einem erschreckend empathielosen, manipulativen Verhalten.
Wieder andere erlebten den zuvor immer netten und charismatischen Menschen in Konfliktsituationen als unbeherrschten, aufbrausenden, aggressiven und höchst rachsüchtigen Mann. Dieses Bild gab er am 22. März auch zuweilen in Berlin ab. Es wäre bei alldem nicht verwunderlich, wenn er Medienvertretern nicht nur mit äußerster Vorsicht zu genießende Interna zuspielt – sondern sich eines Tages auch als Aussteiger medienwirksam neu erfindet und vermarktet.