Der NSU und die „Cui bono?“-Frage
Beim NSU-Prozess in München hat die Aussage des Ex-V-Manns Kai D. weitere Fragen zur Rolle des Geheimdienstes beim Aufbau der Neonazi-Szene aufgeworfen. D. behauptet, er sei erst auf Anweisung des Verfassungsschutzes in die Szene eingestiegen. Für Freunde von Verschwörungen der nächste Beleg für die eigene Legende. Doch die haben alle einen massiven Schwachpunkt. Der Text ist auf publikative.org erschienen.
Wurde der „Thüringer Heimatschutz“ mit Billigung – wenn nicht sogar auf Anweisung – des Verfassungsschutzes aufgebaut? Die Aussage des Ex-V-Manns Kai D. aus Bayern beim NSU-Prozess legt diese Annahme zumindest nahe. Denn Kai D. war nach eigenen Angaben mehr als ein führender Neonazi, der Informationen verkaufte; er stieg angeblich erst auf Wunsch des Geheimdienstes richtig in die Szene ein. Es sei gar nicht seine eigene Meinung dafür maßgeblich gewesen. D. wäre somit faktisch ein verdeckter Ermittler des bayerischen Verfassungsschutzes gewesen.
Mehrfach wöchentlich habe er umfangreich und teilweise schriftliche Meldungen gegeben. Auch habe er mit seinen V-Mann-Führern oft telefoniert. Er sprach sowohl vom bayerischen Verfassungsschutz als auch von der Führungsebene der deutschen Neonazi-Szene in der „Wir“-Form – teilweise ohne das zu differenzieren. Die Antwort auf die Frage, ob er hauptamtlich für den Verfassungsschutz tätig war, verweigerte er zwar, wegen fehlender Aussagegenehmigung. Aus seinen weiteren Ausführungen wurde aber deutlich, dass dies so gewesen sein könnte.
Einfach nur eine Verwechslung?
Der Nebenkläger-Vertreter Sebastian Scharmer erklärte dazu, folge man der Aussage des Zeugen, habe der Verfassungsschutz „die Szene, aus der der NSU stammt, nicht nur überwacht, er saß in Person von Kai D. selbst mit am Tisch, hat operativ Einfluss genommen”. Das sei auch deshalb ein Skandal, weil das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz dem Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags, dann offensichtlich falsch – zumindest unvollständig – berichtet habe. Ein solcher weiterer Vertuschungsversuch, so Scharmer weiter, müsse dringend auch politisch aufgeklärt werden.
Und die Nebenkläger sehen weiteren Aufklärungsbedarf, was die Aussage eines Beamten des Thüringer Verfassungsschutzes angeht. Der ehemalige V-Mann-Führer von THS-Anführer Tino Brandt hatte nämlich vor dem Thüringer U-Ausschuss gesagt, er sei telefonisch am 4. November über den Tod von Böhnhardt und Mundlos in Eisenach informiert worden. Vor dem Oberlandesgericht München gab er nun aber an, dieser Anruf habe erst zwei Tage später, also am 6. November, stattgefunden. Pikant ist zudem, dass am 4. November offiziell noch gar nicht fest stand, wer die beiden Toten überhaupt seien.
Einfach nur eine Verwechslung? Fragwürdig. Immerhin ging es nicht um irgendeine Nebensächlichkeit, sondern um eine Terrorserie, die international für Aufsehen sorgt.
Wem nützen die Verschwörungslegenden?
Im Netz verbreiten sich derweil immer neue Verschwörungstheorien zum NSU-Komplex – angesichts der vielen „Pannen“ und Zufälle auch kein Wunder. Bemerkenswert ist dabei aber der Umfang vieler Seiten dazu. Angeblich sind es „Ehrenamtliche“, die umfangreiche Dossiers anlegen und Zehntausende Seiten aus Akten ins Netz stellen, die obendrein fast rund um die Uhr via Twitter unterwegs sind und dazu lange Video-Interviews – gerne aus dem Ausland geschaltet – produzieren.
Zweifelhaft ist auch die politische Ausrichtung vieler dieser anonymen Akteure, die in der Bildsprache des NSU bleiben und ihre Profile und Seiten mit Figuren und Sprüchen aus Paulchen-Panther-Comics bestücken. Die inhaltliche Stoßrichtung geht zumeist dahin, Geheimdienste als Urheber des NSU und des Rechtsterrorismus zu entblößen.
Damit wäre die Frage aller Fragen der Verschwörungstheoretiker zumindest in Sachen NSU-Verschwörungslegenden schnell beantwortet: Cui bono? Wem nützen die Verschwörungslegenden? Diese sind vor allem in der rechtsextremen Bewegung beliebt – als Strategie der Selbstentlastung. Sogar der langjährige Neonazi-Führer Brandt ist sich nicht zu blöd, den „Thüringer Heimatschutz“ als eine harmlose Gruppe von „patriotischen“ Personen darzustellen.
Aber auch nicht wenige Linksradikale folgen diesen Ideen einer allumfassenden Verschwörung, weil die Vorstellung der allmächtigen Geheimdienste, welche die Nazi-Szene beziehungsweise gleich die gesamte Welt steuern, dadurch scheinbar bestätigt wird.
Terror erfunden, um sich selbst zu blamieren?
Die Sache hat aber gleich mehrere Haken: Zum Einen sind viele Behauptungen und Annahmen der Freunde der NSU-Verschwörungslegenden relativ schnell entzaubert. Sie lassen Dinge weg, die nicht ins Bild passen, ziehen unzulässige Schlüsse, bauen monokausale Argumentationsketten oder verfügen nicht über alle Informationen. Entsprechende Dossiers wurden dementsprechend von Fachleuten durchaus überprüft, danach blieb wenig Substantielles übrig.
Zum Anderen ergeben die Theorien wenig Sinn: Denn die Masterfrage, wem eine NSU-Verschwörung genutzt haben könne, bleibt bis heute unbeantwortet – was für Verschwörungsfreunde wirklich eine schwache Leistung ist, denn eigentlich lässt sich da immer leicht was zusammenreimen. Versuchen wir es einmal: Sollte der Verfassungsschutz also eine rechte Terrorgruppe aufgebaut haben, um nach der inszenierten Selbstenttarnung möglichst dumm dazustehen? Das wäre tatsächlich ein perfider Plan – leider komplett sinnlos. Hat der Staat den rechten Terror erfunden, um kurz vor der Fußball-WM im eigenen Land Migranten erschießen zu lassen? Auch nicht sonderlich überzeugend. Hat der Verfassungsschutz die Nazi-Szene als Anti-Antifa unterstützt? Vereinzelt offenbar vorgekommen (Thüringen), letztendlich aber im Fall des NSU unzutreffend, da die Opfer keine politischen Feinde waren, sondern neun Migranten und sogar eine Polizistin. Bleiben letztendlich nur noch ausländische geheime Kräfte. Nun ja. Da würde ich noch eher auf alte Stasi-Seilschaften tippen.
Wo gehobelt wird, da fallen Späne
Zurück zu Kai D.: Bei diesem Zeugen, der angeblich auf Weisung des Verfassungsschutzes in die Szene eingestiegen ist, handelte es sich um keinen Mitläufer, sondern um einen Anführer in der süddeutschen Neonazi-Bewegung. Er half zudem dabei, den THS aufzubauen, organisierte bedeutende Aufmärsche, stand jahrelang in engem Kontakt zu den wichtigsten Kadern der braunen Bewegung und war involviert beim Aufbau des „Thule-Netzes“, mit dem die Rechtsextremisten kommunizieren sollten.
Dies ist ein typisches Vorgehen von V-Leuten oder auch verdeckten Ermittlern: Sie mischen in möglichst vielen Organisationen mit, um unauffällig viele Kontakte zu knüpfen. Sie bauen Strukturen auf, um über interne Informationen Bescheid zu wissen – und sie machen gerne auch bei Foren oder anderen Angeboten mit, wo man sozusagen an der Quelle sitzt und quasi mit Informationen beliefert wird.
Solche Vorgehensweise sind von anderen V-Leuten oder verdeckten Ermittlern bzw. Mitarbeitern von Geheimdiensten bekannt – nicht nur in der Nazi-Szene. So beispielsweise Fanforscher Martin Thein, Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutzes, der angeblich komplett nebenberuflich in kürzester Zeit mehrere Untersuchungen und Sammelbände über Fans veröffentlichte und sich bei Webseiten einbrachte, wo Fans selbst bloggen sollen. Oder auch in Hamburgs, wo eine verdeckte Ermittlerin des Landeskriminalamts sogar intime Beziehungen zu Personen aus der linken Szene einging und bei einem freien Radio mitmachte. Nun würde aber wohl niemand behaupten, das LKA habe damit das freie Radio FSK aufgebaut oder indirekt subventioniert.
In der Neonazi-Szene ist der Umgang mit V-Leuten offenkundig ambivalent. Einige Geheimnisverkäufer wollen den Nebenjob mit ihren Kameraden abgesprochen und damit die Szene finanziert haben, andere galten über Jahre als verdächtig, Beweise fehlten aber letztendlich. Einige fliegen plötzlich auf, so beispielsweise ein Macher der braunen Hetzseite „Altermedia“ aus Mecklenburg-Vorpommern, der als V-Mann aktiv war. Die Seite blieb über Jahre weitestgehend unbehelligt von den Behörden, obgleich dort Volksverhetzung, Drohungen, Urheberrechtsverletzungen und weitere Delikte an der Tagesordnung waren. Denn „Altermedia“ war wertvoll: Kader schickten hier ihre Berichte hin und es wurde viel schmutzige Szenewäsche gewaschen. Optimal für den Geheimdienst. Die Hetze gegen Feinde der Neonazis waren da lästige Nebengeräusche, die geduldet wurden. Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne.
Der Quellenschutz geht über alles
All diese Fälle belegen vor allem eine alte Grundregel der Geheimdienstarbeit: Der Quellenschutz geht über alles. Dieser war, ist und bleibt das oberste Gebot der Geheimdienste und ist so längst zum Selbstzweck mutiert. Und genau hier dürfte auch die Ursache für das Desaster rund um den NSU zu vermuten sein. Der Geheimdienst musste keinen rechten Terror erfinden und aufbauen, dazu ist er nicht in der Lage und das konnten die Neonazis auch über Jahrzehnte selbst erledigen. Und zwar, weil der Verfassungsschutz das Treiben der Neonazis weitestgehend tolerierte – also duldete. Man war der Ansicht, man habe alles unter Kontrolle, wenn man nur fleißig Informationen sammelt. Dabei scheute der Geheimdienst auch nicht die Kooperation mit rassistischen Schwerverbrechern und notorischen Lügnern. Der Zweck heiligt die Mittel – man hing aber auch ein Stück weit mit drin – was nicht bekannt werden sollte. Daher das Vertuschen, Schreddern und Lügen.
Die Folge war zudem eine teilweise verzerrte Wahrnehmung und vor allem auch Darstellung der Realität: Der Geheimdienst sah die braune Bewegung vor allem durch die Brille der V-Leute – und verkaufte der Öffentlichkeit dann auch noch eine abgespeckte Version dieser bereits schiefen Wahrnehmung, weil viele Informationen zurückgehalten wurden, weil sonst Rückschlüsse auf Quellen möglich sein könnten. Das V-Mann-System begünstigte somit den Aufbau von Neonazi-Strukturen, die braune Bewegung ist aber kein künstliches Produkt von Schlapphüten. Und auch dafür, dass der NSU eine entsprechende Konstruktion oder Erfindung gewesen sei, gibt es bislang keine belastbaren Hinweise.
Versagen von Öffentlichkeit, Medien, Politik und Sicherheitsbehörden? Sicherlich. Eine über viele Jahre angelegte Verschwörung mit Dutzenden, eher Hunderten Mitwissern? Nein. Die Skandale um den NSU-Komplexe sind schlimm genug, da muss man sich gar keine weiteren Missetaten ausdenken. Wer anderes beweisen kann, soll endlich die viel zitierten „Fakten“ und die „Wahrheit“ auf den Tisch legen.