„Aus dem Verborgenen neuen Unfrieden gesät“
Fast hätte man meinen können, im dauerzerstrittenen nordrhein-westfälischen Landesverband der AfD sei etwas mehr Ruhe eingekehrt. Doch 16 Monate nach der Wahl eines gänzlich „Flügel“-losen Landesvorstands zofft man sich wieder mit Inbrunst.
Es geht um Mandate, um prestigeträchtige und aussichtsreiche Listenplätze. Ende Februar und Anfang März sollen die Delegierten bei zwei Parteitagen im Kalkarer Freizeitpark „Wunderland“ die Landesliste für die Bundestagswahl aufstellen. Geht es nach AfD-Landeschef Rüdiger Lucassen, ist er der geborene Spitzenkandidat.
Doch an unerwarteter Stelle tun sich Widerstände auf. Jener Teil der AfD, der sich „gemäßigt“ gibt und auf offene Konfrontation mit allem setzt, was nach „Flügel“ aussieht, hat Lucassen die Unterstützung versagt. Und der Vorsitzende keilt zurück. Am Sonntagmittag schickte er dem Bochumer Kreissprecher Markus Scheer eine Mail. „Ich habe in der Vergangenheit und im Kontext zwischen Dir und mir als Landessprecher darauf vertraut, dass Du Dich aus lauteren Motiven mit mir für einen gemeinsamen Kurs in unserer Partei einsetzt“, schrieb der Bundestagsabgeordnete Lucassen. „In meiner jetzt 16-monatigen Amtszeit als Landessprecher hat sich das leider als Irrtum herausgestellt.“ Er sehe „leider keine Grundlage mehr für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.“
Strippenzieher
Weit wichtiger noch als Scheers Funktion in der Ruhrgebietsstadt ist die Rolle, die er in der Landespartei spielt. Für die einen ist er seit den Zeiten eines Marcus Pretzell der Dunkelmann im Hintergrund, der Strippen und Drähte zieht – für die anderen ein erfolgreicher Netzwerker im Dienste einer „besseren“ AfD. Bemerkenswert ist es schon, dass sein Bochumer Kreisverband – obwohl bei Wahlen im Vergleich zu anderen Ruhrgebietsstädten eher schwach aufgestellt – gleich zwei von 13 Landtagsabgeordneten und zwei von zwölf Mitgliedern im Landesvorstand stellt und auch auf Bundesebene mit dem Leiter der Arbeitsgruppe Verfassungsschutz aktuell großen Einfluss hat.
Es ist bezeichnend für den Zustand der NRW-AfD, dass Lucassens E-Mail rasch öffentlich durchgestochen wurde. In Kopie war sie auch an den Fraktionschef im Landtag sowie an zwei der fünf Bezirksvorsitzenden gegangen. Mindestens einer dieser fünf Beteiligten freilich hatte großes Interesse daran, dass öffentlich bekannt wird, was Lucassen von Scheer hält.
„Unfrieden säen“
Das ist nicht (mehr) viel. Sein eigener Kurs, der zu mehr Geschlossenheit und einer Beendigung interner Fehden führe, werde von der großen Mehrzahl der Partei mitgetragen, aber nicht von Scheer, konstatiert Lucassen. „Wo die Vielzahl unserer Mitglieder die Unterhaltung interner Zwistigkeiten beenden wollen, sind Du und Dein Umfeld zur Stelle, um aus dem Verborgenen neuen Unfrieden zu säen.“ Er selbst, Lucassen, sei auch dafür angetreten, ein „derartiges Binnenklima der Diskreditierung und Herabwürdigung von Funktionsträgern“ zu unterbinden.
Dem Bündnis mit Scheer hatte es Lucassen zu verdanken, dass er im Oktober 2019 gegen einen „Flügel“-Kandidaten zum Landesvorsitzenden gewählt wurde. Doch wirklich vertrauensvoll war die Zusammenarbeit maximal ein halbes Jahr. Eine erste Störung erlebte die Kooperation, als Anfang letzten Jahres die AfD in Höxter eine Veranstaltung ankündigte, bei der Lucassen gemeinsam mit Björn Höcke auftreten sollte. Die Riege der „Gemäßigten“ schäumte.
Mehrere Lager
„Hier wird eine Beschädigung des Landesverbands in Kauf genommen“, schimpfte Scheer. „Warum mischt sich dann einer aus Thüringen in Bayern, Niedersachsen und NRW ein. Um den Zusammenhalt zu fördern? Oder eher wie in Niedersachsen den Sturz des Landesvorstands anzuführen?“ Es ging vordergründig gegen Höcke. Getroffen fühlen sollte sich aber auch Lucassen. Ein anderes AfD-Mitglied aus Bochum sprach von einem „Kuscheln mit Höcke“.
Der Streit eskalierte, als es um die Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl ging und Scheer Lucassen die Unterstützung entzog. Nordrhein-Westfalens AfD bleibt eine Schlangengrube, wobei die Lage unübersichtlicher geworden ist. Einst ging es um die Frage: „Flügel“ oder „Gemäßigte“? Heute gibt es neben dem alten „Flügel“ drei – und wenn man die wenigen „Neutralen“ ebenfalls berücksichtigt sogar vier – weitere Lager, die um die Macht im Landesverband kämpfen.
Knapp über Fünf-Prozent-Hürde
Auch im neuen Vorstand haben sich Brüche aufgetan. Angeblich „Gemäßigte“ finden sich dort, denen es nach Krach mit radikaleren Kräften gelüstet – nicht zuletzt, um selbst als sauber, solide, demokratisch zuverlässig zu erscheinen. Da gibt es – zweitens – die Gruppe derer, die zumindest behaupten, sie wollten die Partei zusammenhalten. Landeschef Rüdiger Lucassen gehört zu ihnen. Zur inneren Geschlossenheit der Partei gehöre „das Miteinander und Verbinden von liberal-konservativen und national-konservativen Strömungen“, meint der Oberst a. D. Landesvize Matthias Helferich steht für ein weiteres Lager: Jene, die mit dem „Flügel“ verbal nichts (mehr) zu tun haben wollen, tatsächlich aber ähnlich radikal ticken.
Das alte Bündnis Lucassen-Scheer ist zerbrochen. Lucassen habe sich aus seiner Sicht „für jede herausgehobene Position in der AfD disqualifiziert“, teilte der Bochumer dem WDR mit. Seine Partei rangiert derweil in der aktuellsten Umfrage von Infratest dimap in NRW nur noch bei sechs Prozent.