Auch der letzte Strohhalm droht wegzuschwimmen
Im sogenannten Fretterode-Prozess um den brutalen Überfall von Neonazis auf Journalisten in Thüringen spricht die Beweislage immer klarer gegen die Angeklagten. Da passt es der Verteidigung gar nicht, dass die Nebenklage jetzt das politische Umfeld von Nordulf H. und Gianluca B. ausleuchten will.
Wenn die alte Kalenderweisheit, dass getroffene Hunde bellen, auch für Strafprozesse gilt, dann muss Sven Adam am Dienstag einen sehr wunden Punkt getroffen haben. Es ist der 15. Verhandlungstag im sogenannten Fretterode-Prozess, seit gut drei Monaten müssen sich die Neonazis Nordulf H. (22) und Gianluca B. (27) wegen eines brutalen Überfalls auf zwei antifaschistische Journalisten vor dem Landgericht Mühlhausen verantworten. Auf dem Zeugenstuhl sitzt an diesem Morgen der NPD-Funktionär Peter Süßbier, Beisitzer im thüringischen Landesvorstand der extrem rechten Partei, bereits zum zweiten Mal wurde er geladen. Und bei fast jeder Frage, die ihm Nebenklageanwalt Adam stellen will, beschwert sich die Verteidigung: Unzulässig! Unerheblich! So engagiert haben sich die Szene-Anwälte Wolfram Nahrath und Klaus Kunze in diesem Prozess bislang noch nie gezeigt.
Vielleicht merken auch sie, dass die Luft immer dünner wird für ihre Mandanten. Dass die Geschichte von Rechtstreue, bürgerlicher Wohlanständigkeit und Notwehr, die sie dem Gericht aufgetischt haben, kaum noch glaubhaft zu machen ist. Nordulf H. ist der Sohn von Thorsten Heise, dem NPD-Bundesvize und einflussreichen Multiaktivisten der militanten Rechten. Gianluca B. ist einer von Heises engsten Vertrauten und sein Nachbar. Alle leben sie in Fretterode, einem kleinen Dorf im äußersten Nordwesten Thüringens, wo Heise das mächtige Gutshaus mitten im Ort bewohnt.
Sachverständige widerspricht
Am 29. April 2018 hatten die beiden betroffenen Journalisten das Anwesen beobachtet, weil sie Hinweise auf ein Neonazi-Treffen bekommen hatten. Sie fotografierten, wurden bemerkt – und sollen dann, so schildern sie es und so steht es in der Anklage, von Nordulf H. und Gianluca B. erst im Auto über die Straßen rund um Fretterode gejagt und dann von ihnen mit Traktorschraubenschlüssel, Baseballschläger und Messer angegriffen und schwer verletzt worden sein. Außerdem sollen ihnen die Angeklagten die Fotoausrüstung gestohlen haben. Was die beiden Neonazis dazu sagen, geht kurzgefasst so: kein rechtes Treffen, nur ganz normales Wochenendleben mit der Familie. Keine Verfolgungsjagd, nur ganz normales Hinterherfahren, um das Autokennzeichen der Fotografen festzustellen. Kein Angriff, nur Verteidigung.
Doch die Beweislage widerspricht dem immer klarer. Nicht nur haben Zeug*innen die Darstellung der beiden Rechercheure bestätigt, auch die Jenaer Rechtsmedizinerin Else-Gita Mall erschütterte die Geschichte von der Notwehr: Dass Gianluca B., wie er beim Prozessauftakt behauptet hatte, von einem der beiden Journalisten der kleine Finger mit einem Baseballschläger gebrochen worden sei, erklärte die Sachverständige angesichts des Verletzungsbilds für äußerst unwahrscheinlich. Er habe sich wohl eher den Finger in einer Autotür geklemmt. Das hatte der NPD-Aktivist im Übrigen auch selbst angegeben, als er sich im Krankenhaus behandeln ließ.
Ortstermin in Fretterode
Und auch der vielleicht letzte Strohhalm, an den sich die Verteidigung jetzt noch klammert, droht davonzuschwimmen: Weil die mutmaßlich geraubte Fotoausrüstung nie gefunden wurde, soll es sie überhaupt nicht gegeben haben, möchten Nahrath und Kunze nahelegen. Ließe sich das Gericht darauf ein, bliebe Nordulf H. und Gianluca B. zumindest eine Verurteilung wegen schweren Raubs erspart. Allein dafür beträgt die Mindeststrafe fünf Jahre Haft.
Ende November verschaffte sich das Gericht deshalb bei einem Ortstermin in Fretterode selbst einen Eindruck, von wo die Journalisten ihre Fotos gemacht hatten – und ob das auch ohne teure Digitalkamera und großes Teleobjektiv möglich gewesen wäre. Wie Nebenklagevertreter Adam im Anschluss berichtete, fiel die Betrachtung von Fotos und Örtlichkeiten jedoch so eindeutig aus, dass die Strafkammer auf das Angebot, spontan Vergleichsaufnahmen mit verschiedenen mitgebrachten Kameras zu machen, gar nicht mehr eingegangen sei.
Unglaubwürdiger Entlastungszeuge
Bereits zuvor war ein Versuch der Verteidigung, Zweifel an der Authentizität der von den Journalisten gemachten Fotos zu säen, nicht allzu glücklich ausgegangen. Ein als „unpolitischer Schulfreund“ von Nordulf H. angekündigter Entlastungszeuge sprach bereitwillig über seine Sauftour mit dem Kumpel am Vorabend des Tattags, über sein Übernachten im Hause Heise (weil man betrunken natürlich nicht mehr Auto fahre) und seinen vormittäglichen Aufbruch. Nicht etwa wegen der anwesenden Journalisten sei er da schnurstracks zu dem nebenan wohnenden NPD-Funktionär Peter Süßbier gelaufen, der mit Gianluca B. in einer Wohngemeinschaft lebte, sondern lediglich um nach Routenempfehlungen für den Rückweg zu fragen. Und um 13.12 Uhr, als er nach dem Zeitstempel der von den Rechercheuren gemachten Bilder noch in Fretterode gewesen sein soll, habe er schon längst zu Hause bei Mutter am Mittagstisch gesessen. Die Fotos seien manipuliert, sollte das heißen.
Doch je mehr es ins Detail ging, desto wortkarger wurde der Mann. Über den weiteren Fortgang des Tages, über die Auseinandersetzungen, an deren Ende einer der beiden Journalisten einen gebrochenen Schädel hatte und der andere einen Messerstich im Bein, habe er mit Nordulf H. nie gesprochen, behauptete er. „Das interessiert mich eigentlich auch gar nicht.“
Gemeinsamer Urlaub mit Familie Heise
Ob er die politische Einstellung seines Freundes kenne? „Ist mir nicht bekannt.“ Ob er schon mal auf dem von Thorsten Heise organisierten Rechtsrockfestival „Schild und Schwert“ im sächsischen Ostritz gewesen sei? „Weiß ich nicht.“ Der Haken: Es gibt Fotos, die ihn sogar als Ordner auf dem Neonazi-Event zeigen.
Schlecht aussehen ließ den Zeugen aber auch ein Foto, das die Anwälte der Nebenklage bei Instagram gefunden hatten: Aus einem gemeinsamen Griechenland-Urlaub mit der gesamten Familie Heise stammt es, auch Gianluca B. ist darauf zu sehen – den der Zeuge damals jedoch trotzdem nicht gekannt haben will. Wegen Aussagen, die der 21-Jährige vor einigen Wochen als vermeintlicher Entlastungszeuge in einem Prozess gegen rechte Schläger in Göttingen gemacht hat, droht ihm bereits ein Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage. Jetzt könnte ein weiteres hinzukommen; die Staatsanwaltschaft möchte allerdings erst das Ende des Prozesses abwarten, bevor sie darüber entscheidet.
Arische Bruderschaft
Auch der Heise-Nachbar und NPD-Mann Süßbier hatte als Zeuge der Verteidigung vor allem beteuern sollen, dass er von den Journalisten zu einer Uhrzeit fotografiert worden sei, die nicht den gespeicherten Bilddaten entspreche. Als er nun zum zweiten Mal auf dem Zeugenstuhl Platz nimmt, aber will die Nebenklage ganz andere Dinge von ihm wissen, zum lauten Unmut der Verteidiger. Über die „Arische Bruderschaft“ möchten Sven Adam und Rasmus Kahlen mit dem 48-Jährigen sprechen – eine überregionale Elite-Kameradschaft, angeführt von Thorsten Heise, die etwa beim „Schild und Schwert“-Festival oder dem Eichsfeldtag der NPD den Sicherheitsdienst übernimmt. Beim Überfall auf die Journalisten hatte sich Nordulf H. mit einem Tuch vermummt, auf dem das Logo der „Arischen Bruderschaft“ prangte, zwei gekreuzte Stielhandgranaten.
Und sie möchten dem NPD-Funktionär Fotos zeigen, die am Nachmittag des Tattags in Fretterode entstanden sein und Rechtsextreme aus der Region zeigen sollen – auf der Terrasse des Heise’schen Hauses. Süßbier, wünschen sie, möge die Männer identifizieren. Die Bilder könnten ein Hinweis sein, dass es entgegen der Darstellung der Angeklagten an jenem Tag sehr wohl ein Neonazi-Treffen in Fretterode gegeben hat. Dass die Journalisten also aus sehr guten Gründen dort waren. Die empörten Reaktionen der Verteidigung auf diese Fragen, durch die plötzlich auch das Umfeld der Angeklagten ins Blickfeld gerät, lassen die Neugier auf die Antworten nicht eben geringer werden.
Prozesstermine bis Ende März
Bis es diese Antworten gibt, braucht es jedoch noch Geduld. Das Gericht möchte über die „Arische Bruderschaft“ wie über die Fotos und ihre Herkunft erst einmal Genaueres wissen, bevor Süßbier dazu befragt wird. Der Zeuge wird also ein drittes Mal geladen werden müssen. Wann das geschehen wird, ist noch offen. Mit Blick auf die hohen Corona-Zahlen in Thüringen will das Gericht vorerst nur kurze Verhandlungstage ansetzen. Vorsorglich wurde der Prozess bereits bis Ende März terminiert.