"Hetzjagd"
Angreifer von Chemnitzer Ausschreitungen verurteilt
Das Chemnitzer Amtsgericht hat einen Mann zu einer Geldstrafe verurteilt, der an den Ausschreitungen in Chemnitz 2018 teilgenommen hatte. Vor Gericht gab er sich kleinlaut.
Seine Augen wandern durch den Raum und finden Halt an der Decke des schmucklosen Saals im Chemnitzer Amtsgericht. Stephan S., breit gebaut, raspelkurze Haare, wirkt schüchtern, fast kindlich. Von seinem Verhalten erinnert nichts an den Mann, der sich Ende August 2018 wie im Boxring tänzelnd vor den Polizeibeamt:innen aufbaute, die Faust drohend erhob und nach Menschen trat.
In dem Prozess geht es um den 26. und 27. August 2018. Nachdem der Chemnitzer Daniel H. nachts im Chemnitzer Stadtzentrum erstochen wird, sammeln sich tags darauf Hooligans und Neonazis vor dem Karl-Marx-Monument. „Lasst uns zusammen zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat“, hatte die rechte Fußballfangruppierung „Kaotic Chemnitz“ angekündigt. 800 Menschen folgten, liefen unvermittelt los, die Polizei war unterbesetzt und vollkommen überfordert. Was folgte, war eine unkontrollierte Situation: Teilnehmer des Spontanaufmarsches machten an mehreren Stellen Jagd auf Menschen, die sie als Migranten identifiziert hatten. Am Tag darauf mobilisierte die extrem rechte Wählervereinigung „Pro Chemnitz“ und brachte bis zu 6.000 Menschen auf die Straße. Auch hier griffen Teilnehmende andere Menschen an: Migrant:innen, Gegendemonstrant:innen und Polizist:innen.
Personen aus Demo heraus angegriffen
Statt über die Ursachen von rechter Gewalt und polizeilichem Kontrollverlust zu diskutieren, kaperte die politische Rechte in den darauffolgenden Wochen die Debatte mit der Frage, ob den Vorfällen der Begriff „Hetzjagd“ gerecht werde - und schaffte es so, die Übergriffe gänzlich in Zweifel zu ziehen.
Dass an diesen Tagen mehr passierte, als in dem bekannten „Hase-Video“, belegen Augenzeug:innenberichte und weitere Videos. Auch der Zeuge Benjamin G., Mitglied der NPD und JN Mittelsachsen, bestätigte am ersten Prozesstag, dass aus dem Marsch heraus Menschen verfolgt worden seien. Der Angeklagte F., der an beiden Tagen die Aufmärsche besuchte, war auf mehreren dieser Videos zu sehen. Konkret wurde ihm zur Last gelegt, dass er am Rande des Aufmarsches auf einen Menschen eintrat und während eines Angriffs auf eine abreisende Gruppe Gegendemonstrant:innen einen Polizisten geschubst und geschlagen habe. Darüber hinaus sei er dabei mit Protektorenhandschuhen unterwegs gewesen, die bei Versammlungen als Schutzbewaffnung verboten sind. Auch Landfriedensbruch wurde ihm vorgeworfen, doch das Gericht sah diesen speziellen Vorwurf nicht als bestätigt.
Festnahmerecht?
Die als Zeugen geladenen Polizisten konnten die Vorwürfe größtenteils bestätigen. Von ihrer Seite war mehrmals zu hören, dass sie an diesem Tag mit zu wenigen Beamt:innen im Einsatz gewesen seien. Man habe das Möglichste getan, um die Lager zu trennen und Übergriffe auf Migranten am Rande des Aufmarsches zu verhindern. Von ihnen seien zum Teil verbale Provokationen ausgegangen. Dass der Angeklagte nach einem Menschen, der nicht ausfindig gemacht werden konnte, getreten habe, versuchte die Verteidigerin mit dem Festnahmerecht zu begründen: Ihr Mandant habe nur einen Täter stellen wollen, der eine Flasche geworfen habe. Dass überhaupt Flaschen auf den Aufmarsch geworfen wurden, konnte im Prozess allerdings nicht festgestellt werden und ein Tritt sei nicht mit dem Festnahmerecht zu begründen, so die Richterin.
Stephan F. gab sich im Prozess reumütig. Dass er bereits während einer polizeilichen Vernehmung um Entschuldigung gebeten habe, wurde zu seinen Gunsten berücksichtigt. Ebenso, dass die Taten bereits fast vier Jahre zurückliegen. Er beteuerte am Schlusstag, dass er alleine bei den Aufmärschen gewesen sei und sich von „Pro Chemnitz“ distanziere. Seine Anwältin, die auf Freispruch in allen Punkten plädierte, gab an, F. habe „diese Zeiten endgültig hinter sich gelassen“ und bezog sich ebenfalls auf dessen angeblich nicht vorhandene Szenebindung.
Szenetypische Straftaten
Fotos von Aufmärschen 2018 und zuvor zeigen indes F. gemeinsam und teilweise im Gespräch mit Neonazis, die genau wie er mehrmals an Aufmärschen teilnahmen. Das Bundeszentralregister weist darüber hinaus mehrere teils szenetypische Straftaten aus den vergangenen 19 Jahren auf. Das Gericht sah keinen Grund für eine Haftstrafe, die von der Staatsanwältin gefordert worden war und verurteilte den selbstständigen Maler und Lackierer zu einer Geldstrafe von 7.250 Euro, die sich aus 145 Tagessätzen à 50 Euro zusammensetzt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
In der Vergangenheit waren bereits zahlreiche Prozesse im Zusammenhang mit den Aufmärschen im Spätsommer 2018 geführt worden. Mehrere Male war es dabei um Hitlergrüße gegangen, zuletzt war ein bekannter Neonazi wegen des Angriffs auf das jüdische Restaurant Schalom nach dem Aufmarsch am 27. August zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden.
Weiterer Prozess
Die Terrorgruppe Revolution Chemnitz, die sich an den Aufmärschen beteiligt und nach einer Folgedemonstration im September 2018 einen erste „Probetat“ begangen hatte, war bereits 2019 verurteilt worden. Einer der größten Prozesse im Zusammenhang mit den Ausschreitungen steht unterdessen noch aus: Die Generalstaatsanwaltschft Dresden hat neun, teils bundesweit bekannte Neonazis aus Nordrhein-Westfalen, Thüringen und Sachsen angeklagt, die zusammen mit weiteren Rechten eine Gruppe Gegendemonstrant:innen attackiert haben sollen. Ein Prozess ist noch nicht terminiert.