AfD: Oligarchen allerorten

Ab Mitte Mai können die mehr als 35.000 Mitglieder darüber abstimmen, wer bei ihren Parteitagen künftig das Sagen haben soll: 600 Delegierte oder sämtliche Inhaber eines Parteiausweises.

Freitag, 24. April 2020
Rainer Roeser

Partei der direkten Demokratie zu sein: Es sollte vor Jahren ein Markenkern der noch jungen AfD werden. So wie es zum Selbstverständnis gehörte, ganz anders sein zu wollen als die anderen Parteien. Geworden ist daraus: nichts. Wirklich punkten konnte die AfD anfangs mit Euro- und EU-Kritik, aus der dann später platter Nationalismus wurde, mit Slogans gegen Zuwanderung und gegen den Islam und zuletzt gegen den Klimaschutz, aber nicht mit der Forderung nach Volksabstimmungen à la Schweiz.

Und was ihre innere Entwicklung anbelangt, schien es fast, als habe sie sich die schlechtesten Beispiele der Parteiengeschichte zum Vorbild genommen. Die AfD mutierte zum Karriereinstrument mit unklarer Finanzierung, mit Vorsitzenden, die nicht nur aus dem Amt, sondern gleich aus der Partei getrieben wurden, mit intriganten Machtkämpfen hinter den Kulissen, die, wenn sie doch an die Öffentlichkeit geraten, so amateurhaft wirken wie Jörg Meuthens Idee, man könne die Partei klinisch rein aufspalten.

Delegitimierung der parlamentarischen Demokratie

Die Zeiten, da die AfD lautstark für direkte Demokratie trommelte, sind jedenfalls vorbei. Ohnehin gewannen Beobachter den Eindruck, dass es ihr weniger um Mitsprache und Mitentscheidung der Bürger ging, sondern mehr um eine Delegitimierung der parlamentarischen Demokratie und um den Versuch, mit Volksabstimmungen eine rechte(re) Politik durchzusetzen.

Dabei war schon auffällig, dass die Partei, die direkte Demokratie auf ihre Fahnen schrieb und die anderen Parteien ob ihrer Verknöcherungen scharf kritisierte, in ihren eigenen Reihen diese Maßstäbe nie gelten ließ. Mitgliederentscheide – in der Satzung unter Paragraf 20 festgeschrieben – hat die AfD bis heute nicht durchgeführt. Allerhöchstens bediente sie sich vor Programmentscheidungen einer Mitgliederbefragung.

Flucht ins Unverbindliche

Sie bietet gleich mehrere Vorteile. Der wichtigste: Sie ist unverbindlich. Beileibe nicht immer in der Geschichte der AfD fand sich ein Mehrheitsvotum der Basis auch in einem Leitantrag wieder, geschweige denn in einem Parteitagsbeschluss. Vor allem, wenn negative Schlagzeilen drohten, weil die Mitglieder radikaler dachten, als es der Parteispitze lieb war, verschwand deren Votum in gut verschließbaren Schubladen. Für die AfD-Führung sprechen zwei weitere Argumente für derlei Befragungen. Zum einen lässt sich mit ihnen eruieren, in welche Richtung es die Basis zieht. Zum anderen lassen sich die Mitglieder und teils auch die Berichterstattung über die Partei durch eine manipulative Fragestellung lenken.

Aber selbst dieses vergleichsweise unverbindliche und manipulationsanfällige Instrument birgt Risiken, würde es an den aus Sicht der Führung falschen Stellen angewandt. Es könnte die Bruchlinien überdeutlich machen, die die AfD durchziehen. Nicht ohne Grund verzichtete die Partei in ihrer Debatte über die Rentenpolitik darauf, die Mitglieder zu befragen. Deren Votum hätte als ganz grundsätzliche Richtungsentscheidung verstanden werden müssen. Und es hätte entweder die Befürworter eines umlagefinanzierten Rentensystems oder – was wahrscheinlicher gewesen wäre – die marktradikalen Vertreter einer privatisierten Rente mit Meuthen an der Spitze blamiert. Ohne diese lästige Basisbeteiligung lassen sich aber sogar „Kompromisse“ zwischen eigentlich unvereinbaren Positionen basteln, die zumindest den Eindruck vermitteln könnten, das Gesicht des Unterlegenen – in Sachen Rente das des Bundessprechers Meuthen – werde gewahrt.

Mitgliederentscheid über Parteitage

Erstmals nun aber haben die Mitglieder in Kürze tatsächlich eine Entscheidung zu treffen. Die rund 35.000 Mitglieder werden ab 15. Mai per Briefwahl darüber abstimmen, ob in diesem Jahr nicht nur die 600 Delegierten, sondern alle Mitglieder zu einem Bundesparteitag eingeladen werden. Der bayerische Bundestagsabgeordnete Hansjörg Müller hat die Abstimmung erzwungen. Der 51-Jährige, der als sehr „Flügel“-nah gilt, verfolgt ein weitergehendes Ziel: Bei dem Treffen soll nach seiner Vorstellung beschlossen werden, dass bei künftigen Parteitagen auf allen Ebenen der Partei stets sämtliche Mitglieder das Sagen haben.

„Aus Gründen der innerparteilichen, demokratischen Willensbildung spricht ALLES gegen Delegiertenparteitage, weil ein paar Hundert Delegierte über Belohnung (Ämterpatronage) und Bestrafung (Einnorden) von der Führung in Abhängigkeit gebracht und gefügig gemacht werden können“, heißt es auf der Internetseite, die Müller für seine Kampagne „AfD-Mitgliederparteitage verpflichtend machen!“ eingerichtet hat. Gegenüber vielen Tausend selbstbewussten Mitgliedern funktioniere die „Fremdsteuerung durch Zuckerbrot und Peitsche zum Glück nicht“. Innerparteiliche Demokratie auf der Basis des Delegiertenprinzips erscheint Müller als „frommes Märchen“. Denn: „In Wirklichkeit unterliegen alle Parteien, mehr oder weniger schnell, dem Mechanismus der Verselbständigung der Macht aufgrund der persönlichen Interessen der Mandatsträger (= Oligarchisierung).“

Geheimdienst-U-Boote vermeiden

Eine gehörige Prise Verschwörungstheorie darf in seiner Argumentation nicht fehlen. „Alle wirklich oppositionellen Parteien“ würden „von Geheimdiensten unterwandert und ferngesteuert“, meint Müller. Mitgliederparteitage würden vermeiden, dass Führungsgremien der AfD von außen ferngesteuert werden könnten und „diese fremden Entscheidungen den Mitgliedern von eingeschleusten bzw. eingekauften U-Booten über das Delegiertensystem aufgezwungen werden“.

Immerhin 1279 Mitglieder unterschrieben Müllers Forderung. Das Quorum – die Satzung verlangt drei Prozent der Mitglieder – war erreicht. Bis zum 22. April konnten seine Unterstützer zudem ihre Stellungnahmen zum Thema beim Bundesvorstand abliefern. Müller hatte sie dazu aufgerufen und vorsorglich schon einen Text mundgerecht vorformuliert, samt Warnung vor der „Oligarchisierung“, wegen der die AfD „endgültig an das Altparteiensystem verloren“ zu gehen drohe. Und er erinnerte:„Nicht umsonst ist die Forderung nach Volksabstimmungen ein Alleinstellungsmerkmal der AfD. Und was wir für die Gesellschaft insgesamt fordern, sollten wir erst einmal parteiintern selbst vorleben.“

„Flügel“ geht auf Distanz

Stellungnahmen können neben seinen Unterstützern aber auch die Vorstände vom Bund bis zu den Kreisen, Bundeskonvent, Bundesprogrammkommission und Bundesfachausschüsse abgeben. Von ihnen erwartet sich Müller, der einst das AfD-Mittelstandsforum gründete, nichts Gutes: „Da können wir uns sicher darauf einstellen, dass die wahrscheinlich alle gegen unsere Initiative sein werden.“

Besonders herb dürfte ihn jedoch getroffen haben, dass auch der „Flügel“ auf Distanz ging. Auf dessen Internetseite veröffentlichte der sachsen-anhaltinische Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider eine Stellungnahme. Schon der Titel verriet, wohin die Reise ging: „Es lebe der Delegiertenparteitag!“. Tillschneider spottete über die „Erlösungshoffnung, die alle Schuld an der schlechten Politik, unter der wir leiden, auf das Delegiertensystem schiebt und sich allein von der Einführung direkter Demokratie schon Besserung verspricht“ und über „romantische Bilder der Volksgemeinde, die sich alljährlich auf dem Marktplatz von Appenzell vor Alpenkulisse versammelt – Sinnbild demokratischer Urwüchsigkeit?“.

„Simulation von Demokratie“

Die Abschaffung des Delegiertensystems sei nicht nur „zutiefst undemokratisch“, sondern „unbezahlbar oder zumindest nur unter der Bedingung bezahlbar, dass wir uns dann nichts anderes mehr leisten können wie z. B. Wahlkampfausgaben“, warnt Tillschneider. Gerade Mitgliederparteitage würden – schon durch die Wahl des Veranstaltungsortes – „Manipulationen aller Art Tür und Tor“ öffnen. Das Delegiertensystem hingegen garantiere, „was ein Mitgliederparteitag nie leisten kann: Dass alle Gliederungen der Partei gleichmäßig repräsentiert sind. Und genau das ist Demokratie!“. Parteitage mit mehreren tausend Teilnehmern seien doch „nur noch eine Simulation von Demokratie“.

Die Parteigranden gegen sich, den „Flügel“ gegen sich, und auch, dass bundesweit lediglich vier Kreisverbände seinen Vorschlag unterstützen mochten, dürfte Müller nicht hoffnungsfroh stimmen. Er benötigt laut Satzung eine einfache Mehrheit der Abstimmenden, mindestens aber die Stimmen von einem Fünftel der Mitglieder. Dass das erreichbar ist, steht eher nicht zu vermuten. Gewinner wäre in diesem Fall der Bundesvorstand. Der mag zwar Mitgliederentscheide prinzipiell nicht sonderlich, könnte aber auf die angebliche Basisnähe der Partei verweisen.

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