AfD inszeniert sich „sozial“
In Nordrhein-Westfalen geriert sich die AfD als Fürsprecherin von Bergleuten. In Niedersachsen entdeckt sie die Themen Altersarmut, Pflege und Wohnen. Eine Klärung der Frage, ob sie mehr neoliberal oder mehr „sozialpatriotisch“ klingen will, hat sie aber zunächst einmal aufgeschoben.
So oft kommt es nicht vor, dass Björn Höcke Freundlichkeiten für die Führungsriege der nordrhein-westfälischen AfD parat hat. Anfang Juli, nach dem desaströsen Parteitag der NRW-AfD (bnr.de berichtete), mokierte er sich über „andere Verbände“ die sehr damit beschäftigt seien, sich als Partei selbst zu zerfleischen. Und zu Zeiten, da er noch viel offener als heute zwischen den „Ganzen“ und den „Halben“ in der Partei unterschied, hätte er die meisten Spitzenleute aus dem Westen der alten Republik vermutlich der zweiten Gruppe zugerechnet, den „Weichgespülten“. Vor einer Woche aber war Höcke voll des Lobes. „Liebe Kollegen in Düsseldorf, das war Spitze!“, begeisterte er sich.
Der Landtag als Show-Bühne
Am Abend zuvor hatte der nordrhein-westfälische Landtag eine Debatte erlebt, die manche Abgeordnete an Weimarer Verhältnisse denken ließ. Unten im Saal schrien AfD-Abgeordnete ins Mikrofon, oben auf der Tribüne wurden sie von Zuschauern in Bergmannskluft gefeiert. Schon früh drängte sich dem einen oder anderen Parlamentarier die Vermutung auf, Zeuge und Teil eines inszenierten Eklats geworden zu sein. Vordergründig ging es um rund 200 Bergleute aus der stillgelegten Zeche Prosper Haniel, denen die Ruhrkohle AG betriebsbedingte Kündigungen geschickt hatte, nachdem sie die angebotenen Ersatzarbeitsplätze ausgeschlagen hatten.
Am Morgen nach der denkwürdigen Stunde im Parlament veröffentlichte die AfD-Fraktion ein kurzes Video, perfekt geschnitten und mit dramatischer Musik unterlegt: AfD-Politiker inmitten der Bergleute, offenbar auf dem Weg zum Landtag; die 80 Bergleute auf der Tribüne; der tobende Fraktionschef Markus Wagner im Plenum, der die Abgeordneten der anderen Parteien anherrscht: „Das ist eine Schande, was Sie hier abliefern!“; Beifall auf der Tribüne; dann Pfiffe, Buh- und „Verräter“-Rufe, als der AfD-Antrag abgelehnt wird; Tobuwabohu vor dem Plenarsaal, dramatisiert durch eine unruhige Kameraführung; Bergleute, die gegen die Scheibe trommeln, die Plenarsaal und Foyer trennt; dann ein AfD-Fraktionschef, der den Bergleuten versichert: „Wir werden kämpfen, kämpfen, kämpfen! Und Ihr müsst kämpfen, kämpfen, kämpfen!“ Eine „flammende Ansprache“ habe Wagner gehalten, berichtet die AfD später. Und der Landtag ist zur Bühne für das geworden, was Fernsehprofis Scripted Reality nennen.
Politik zur Pseudo-Doku-Soap instrumentalisiert
Der Landtagskorrespondent der „Neuen Westfälischen“ berichtet später, Journalisten sei vor der Debatte von der AfD signalisiert worden, dass es „wohl Stimmung geben“ werde im Plenarsaal. „Über 100 Bergleute“ würden von den Zuschauerrängen aus „die Reden der Abgeordneten verfolgen und möglicherweise auch kommentieren“. Die AfD habe die Bergleute „hemmungslos aufgewiegelt und für ihre Zwecke eingespannt“, schreibt der Korrespondent. Auf der Tribüne hätten neben den Bergleuten feixende AfDler gesessen. „Sie konnten ihr fragwürdiges Glück kaum fassen in diesem Moment der schamlosen Instrumentalisierung.“ Politik wurde unter den Händen des AfD-Videoteams zur Pseudo-Doku-Soap.
Höcke jedenfalls fand den Zwei-Minuten-Streifen so gut, dass er ihn umgehend seiner Anhängerschaft zur Ansicht empfahl. „Nur so geht es!“, jubelte er. Und auch die Düsseldorfer AfDler waren's zufrieden – gelang es ihnen doch zumindest einmal, den Eindruck zu erwecken, als seien sie mehr als nur eine Partei, die Neoliberalismus mit Nationalismus verknüpft. Sie schafften das sehr viel besser als wenige Stunden zuvor Parteichef Jörg Meuthen und der AfD-Vorzeigearbeiter Guido Reil. Bei ihnen im Europaparlament in Brüssel waren die Bergleute zuvor zu Gast gewesen waren. Überliefert davon sind nur ein paar Fotos. Meuthen und Reil wussten offenbar mit der Chance der Instrumentalisierung nichts Rechtes anzufangen.
„Sozialkampagne“ gestartet
Nicht nur in Höckes Revier und in NRW haben AfDler erkannt, dass sich ihre Partei als arbeitnehmerfreundlich und irgendwie sozial bewusst verkaufen muss, will sie weiter Erfolg haben. Die niedersächsische AfD-Landtagsfraktion startete Anfang Juni eine dreiwöchige „Sozialkampagne“ mit dem doppelsinnigen Titel „Weil, es reicht“. Ziel sei es, „auf die drängenden sozialen Missstände im Land aber auch im Bund aufmerksam zu machen“, kündigte ihr Sozialpolitiker Stefan Bothe an. „Altersarmut, Pflegenotstand und Mangel an bezahlbarem Wohnraum in den Ballungsgebieten sind sozialer Zündstoff.“
Die Fraktion sehe „vor allem die soziale Frage als Zukunftsfrage für Niedersachsen aber auch für Deutschland an“ und wolle sich im „weiteren Verlauf der Wahlperiode verstärkt im Bereich sozialpolitischer Fehlentwicklungen zu Wort melden“. Zünden konnte die „Kampagne“ freilich noch nicht so recht. Zu altbacken war sie mit ihrer Kombination aus parlamentarischen Initiativen und Plakatkampagne angelegt. Die Öffentlichkeitswirksamkeit der Düsseldorfer Aktion erreichten die Niedersachsen bei weitem nicht. Hier und da berichteten Medien über das Auftauchen der zwei Lastwagen von der AfD, auf deren Ladefläche Großplakate installiert waren. Das war es aber auch schon.
„Der Linken dieses Kronjuwel abjagen!“
Im niedersächsischen Landtag waren von der AfD-Fraktionschefin Dana Guth die Standardparolen ihrer Partei zu hören: hier die sozialen Ungerechtigkeiten in Deutschland, dort die Milliarden Euro, die für Entwicklungshilfe, Flüchtlinge und Energiewende aus dem Fenster geworfen würden. Auch im Landtag kam die AfD vor der Sommerpause nicht so richtig vom Fleck. Ausweislich einer im Internet eingerichteten Seite gab es bislang nur zwei Entschließungsanträge und zwei kleine Anfragen zum Thema.
Die Marschrichtung hatte Höcke vor einem Jahr beim „Kyffhäuser-Treffen“ seines „Flügels“ vorgegeben: „Die Linken haben die Arbeiter, die Angestellten und die kleinen Leute verraten!“, hatte er seinen Anhängern zugerufen und fortgesetzt: „Die soziale Frage war das Kronjuwel der Linken. Es war ihre Existenzgarantie. Und wenn wir als AfD glaubwürdig bleiben und entschlossen bleiben, dann können wir der Linken dieses Kronjuwel jetzt abjagen! Und das sollten wir tun!“ Er empfiehlt seiner Partei einen „solidarischen Patriotismus“: die Kombination des Nationalismus in AfD-Prägung mit sozialpopulistischen Sprüchen. Im Osten hat sich dieser Kurs schon durchgesetzt.
AfD vor der Zerreißprobe
Doch in der Bundes-AfD bleibt umstritten, wie weit die Adaption vordergründig „links“ klingender Parolen gehen soll. Es ist – neben der Stilkritik an den Auftritten von Höcke und seiner Anhänger (bnr.de berichtete hier und hier) – eine der beiden Fragen, die die AfD vor eine Zerreißprobe stellen. Zur Klärung hätte ein „Sozialparteitag“ beitragen können. Eigentlich hatte er Mitte September stattfinden sollen. Nun ist er aber auf nächstes Jahr verschoben.
Die ursprüngliche Terminplanung barg aus Sicht der Parteioberen gleich mehrere Risiken. Vor allem: Die monatelangen Bemühungen des zuständigen Bundesfachausschusses und der Programmkommission, einen möglichst breit getragenen Leitantrag zum Thema Rente zu entwickeln, blieben bislang ohne vorzeigbaren Erfolg. Unvereinbare Positionen treffen aufeinander. Die neoliberalen Kräfte rund um Meuthen setzen auf ein Ende der umlagefinanzierten Rente und den Umbau hin zu einer steuerfinanzierten Minirente, ergänzt durch individuelle Vorsorge. Höcke tritt hingegen für ein Festhalten an einer Umlagefinanzierung ein und hat ein Konzept vorgelegt, das „Deutsche“ gegenüber „Ausländern“ bevorzugt.
Verständigung kaum möglich
Wie zwischen diesen beiden Polen eine Verständigung möglich ist, weiß bisher niemand zu sagen. Ein Parteitag im September hätte nur Verletzte hinterlassen: Entweder einen Parteichef Jörg Meuthen, der keine drei Monate vor der Neuwahl der AfD-Spitze hätte erfahren müssen, dass die Basis neoliberalen Heilsträumen nicht folgen mag. Oder einen Thüringer AfD-Vorsitzenden, dem sechs Wochen vor seiner Landtagswahl signalisiert worden wäre, dass die Mehrheit der Mitglieder seinen Rezepten abhold ist. Oder – und das wäre am wahrscheinlichsten gewesen – gar beide, weil die Delegierten dann doch irgendeinen Mittelweg gesucht hätten zwischen Marktradikalismus und (nur scheinbaren) Anleihen von links.
Nun kommt es erst nach der Wahl des neuen Bundesvorstands und nach der Wahl in Thüringen zum Sozialparteitag und damit – vielleicht – zu einer Klärung der Fronten. Bis dahin kann die AfD noch das eine oder andere Video veröffentlichen, das zwar gefällig wirken mag, mit dem die tatsächlichen Konflikte in der Partei aber nur übertüncht werden.