Antisemitismus
„Wehrlose Demokratie?“
Wer sich nach dem Terroranschlag des 7. Oktobers nicht unmissverständlich mit Israel solidarisiere, ergreife Partei für den antisemitischen Terror, schreibt der Autor Samuel Salzborn in seinem neuesten Buch „Wehrlose Demokratie?“. Der Kampf gegen Antisemitismus und der Kampf für die Demokratie seien „untrennbar miteinander verbunden“.
Antisemitismus sei eine Weltanschauung, zu der die Vernichtungsandrohung immer dazugehöre, so Salzborn. Der Antisemitismus-Forscher und Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin betont, dass lange, bereits beginnend in der Kaiserzeit, verkannt wurde, dass die antisemitische Feinderklärung im Kern auch gegen die Demokratie gerichtet war und ist. Antijüdischer Hass impliziere Hass auf Aufklärung, Liberalismus, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Individualität: die Bestandteile der Demokratie. Pluralismus soll durch Identität, Wahrheit durch Lüge ersetzt werden. Ziel sei die Schaffung einer antisemitisch orientierten Volksgemeinschaft.
Heute sei Antisemitismus zur „integralen Klammer über alte Milieu-Grenzen hinweg geworden“. Antisemitische Verschwörungsmythen und der Hass auf Israel einen Personen aus „allen Bereichen des politischen Spektrums“. Die Unterstellung einer jüdischen Weltverschwörung ist Salzborn zufolge „der verbindende Gedanke zwischen Neonazis, linken Antiimperialisten und islamistischen und arabischen ExtremistInnen“. In jüngerer Vergangenheit zeige sich eine „teilweise Radikalisierung“ im Kunst-und Kulturmilieu, „in dem unter dem Deckmantel vermeintlicher Kunstfreiheit eine massive Normalisierung von antisemitischen Ressentiments betrieben wird“. Ausdrücklich betont der Wissenschaftler, dass Antisemitismus „der integrale Bestandteil des nazistischen und rechtsextremen Weltbildes“ sei.
Kampf gegen Antisemitismus als Selbstverständnis?
Salzborn erinnert daran, dass die bundesdeutsche Demokratie nicht nur historisch, sondern auch systematisch gegen den Nationalsozialismus etabliert und als Bollwerk gegen den Antisemitismus geschaffen wurde. Ihr verfassungsrechtlicher Wesenskern konstituiert eine offene Gesellschaft statt einer identitären Gemeinschaft.
Die Stärke der deutschen Demokratie im Kampf gegen Antisemitismus könnte ihr Selbstverständnis als wehrhafte Staatsform sein. Terminologisch begründet wurde die Wehrhaftigkeit des modernen Staates in seiner Verfasstheit als Demokratie 1937 vom Verfassungsrechtler Karl Loewenstein durch den Begriff der „militant democracy“.
„Viel zu spät“
Zum Kontext einer wehrhaften Demokratie zählt Salzborn unter anderem die Verbotsmöglichkeiten von Vereinen und Parteien, die Einschränkung bzw. Verwirkung von Grundrechten oder die Bindung der Lehrfreiheit an die Normen der Verfassung, aber auch gesetzliche Regelungen wie die Straftatbestände Volksverhetzung einschließlich NS-Verherrlichung und Holocaust-Leugnung.
Salzborn ruft in Erinnerung, dass das Politikfeld „Antisemitismus“ als Aufgabe staatlichen Handelns in systematischer und institutionalisierter Hinsicht eine Geschichte von weniger als zehn Jahren habe. „Viel zu spät“ habe sich die Bundesrepublik um die systematische Bekämpfung von Antisemitismus gekümmert. Mittlerweile habe sich dies der Staat jedoch „ausdrücklich zur staatlichen Aufgabe“ gemacht. Dennoch verharre die „Professionalisierung der wehrhaften Demokratie“ noch in den Startlöchern. Dass Staat und demokratische Parteien bis heute allzu oft wehrlos gegen Antisemitismus agierten, solle „dringende Mahnung sein“, das Handeln dagegen „systematisch, konsequent und wehrhaft“ umzusetzen.
Strafrecht anpassen
Auch sei das Strafrecht nicht mehr auf der Höhe der Zeit. So mache es Holocaustleugnung strafrechtlich verfolgbar, andere Formen von Antisemitismus aber nicht. Salzborn fordert deshalb: „Es bedarf dringend einer strafrechtlichen Erweiterung, die jede Form von Antisemitismus ahndet.“ Er schlägt vor, den von einigen Bundesländern bereits beschrittenen Weg der verfassungsnormativen Verankerung des Kampfes gegen Antisemitismus zum Staatsziel in der Verfassung des Bundes und der Länder zu machen.
Antisemitismus sei nicht einfach eine Diskriminierung wie Rassismus oder Homophobie. Antisemitismus sei eine grundlegende Haltung zur Welt, eine „Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft“, mit der man alles in Politik und Gesellschaft, das manche Personengruppen nicht erklären und verstehen können oder wollen, begreifbar zu machen versuche.
Systematisches Handeln gefordert
Wenn „Nie wieder“ ernst gemeint sei, müsse die deutsche Demokratie beim Kampf gegen den Antisemitismus ihre Wehrhaftigkeit unter Beweis stellen. Eben nicht nur durch die Proklamation von Worten, sondern durch systematisches und umfangreiches Handeln, appelliert Salzborn.
Salzborn, Samuel: Wehrlose Demokratie? Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung. Hentrich & Hentrich, Berlin 2024