Henstedt-Ulzburg-Prozess

Wegen Autoattacke angeklagter Ex-AfD-Mann erntet Widerspruch

Melvin S. soll Teilnehmer*innen einer Kundgebung gegen die AfD gezielt mit dem Auto angefahren und schwer verletzt haben. Er selbst spricht von einer „Panikreaktion“. Doch was der erste Zeuge berichtet, der im Prozess vor dem Landgericht in Kiel vernommen wird, klingt ganz anders.

Mittwoch, 02. August 2023
Joachim F. Tornau
Das Landgericht in Kiel (c) Jochen Flöthe CC BY-SA 3.0 DE
Das Landgericht in Kiel (c) Jochen Flöthe CC BY-SA 3.0 DE

Der Mann spricht leise, immer wieder kommen ihm die Tränen. Doch seinen Worten mangelt es nicht an Deutlichkeit. „Er hätte einfach wegfahren können“, sagt der 29-Jährige. „Aber er hat in keiner Sekunde gestoppt oder gezögert. Wie in einem Computerspiel. Sie hatte keine Chance.“ 

Tatwerkzeug tonnenschwerer Pick-up

Sie, das ist seine frühere Lebensgefährtin. Im Oktober 2020 wurde die Frau, eine Person of Colour, am Rande einer Kundgebung gegen die AfD im schleswig-holsteinischen Henstedt-Ulzburg von einem damaligen Mitglied der Rechtsaußenpartei angefahren und schwer verletzt – absichtlich, das glaubt nicht nur ihr Ex-Freund, sondern auch die Staatsanwaltschaft. Und er, das ist Melvin S., der sich deshalb seit Anfang Juli wegen des Vorwurfs des versuchten Totschlags vor dem Landgericht in Kiel verantworten muss.

Statt einfach wegzufahren soll der heute 22-Jährige, nachdem er und seine drei Begleiter von der antifaschistischen Kundgebung ausgeschlossen worden waren, den tonnenschweren Pick-up seiner Mutter gezielt auf den Bürgersteig gelenkt und auf vier Demonstrant*innen zugehalten haben. Drei von ihnen traf er. Nur der Mann, der am Mittwoch als erster Nebenkläger in den Zeugenstand tritt, konnte sich mit einem Sprung zwischen parkende Autos gerade noch retten. Aber auch er leidet noch heute unter den Folgen.
 

Fast atemlos erzählt der Student, wie Melvin S. das Auto „super kontrolliert und galant“ auf den Gehsteig gesteuert habe. Wie das erste Opfer zur Seite geschleudert worden sei. Wie der Angeklagte danach „einfach durchbeschleunigt“ habe und mit aufheulendem Motor auf seine Freundin zugefahren sei. „Es wurde extra nach rechts auf den Grünstreifen gezogen, um sie zu treffen“, sagt er. „Ich wollte ihr noch zurufen, dass sie wegspringen soll. Hab es nicht mehr rausbekommen.“ Noch immer kämpfe er mit Schuldgefühlen, weil er sie nicht habe schützen können.

Zeuge schildert "unaufgeregten" Fahrer

„Ich habe sie da liegen sehen“, erinnert er sich. „Und ich denke sofort, dass sie tot ist.“ Er sei dem Wagen, den Melvin S. danach, auch das ganz kontrolliert, an einer Bushaltestelle zum Stehen gebracht habe, hinterhergerannt, habe ans Beifahrerfenster getrommelt, habe gebrüllt: „Du hast sie umgebracht!“ Die Reaktion: keine. „Er wirkte kühl, unaufgeregt.“ Einer der Begleiter des Angeklagten dagegen habe sich sofort entschuldigt – obwohl er nicht einmal mit Melvin S. im Auto gesessen habe.

Lebensgefährlich, wie er es im ersten Schreck befürchtet hatte, waren die Verletzungen seiner Freundin dann zwar nicht. Aber, so berichtet er, sie habe zunächst weder stehen noch gehen können, monatelang „extreme Schmerzen“ gehabt und sich nicht einmal die Socken selbst anziehen können. Und er selbst? Sei seither psychisch schwer angeschlagen und versuche, das Erlebte in einer Therapie zu verarbeiten. Die Masterarbeit, um sein Studium abzuschließen, habe er auf unbestimmte Zeit vertagen müssen.
 

Nach Absprache mit Landes-Vize aus AfD ausgetreten

Melvin S. hört sich all das ohne erkennbare Regung an, nur gelegentlich knetet er seine Finger. Beim Prozessauftakt hatte der Angeklagte, der die AfD in Rücksprache mit dem Kreisvorsitzenden und heutigen schleswig-holsteinischen Vize-Landeschef Julian Flak kurz nach der Tat verlassen hat, jegliche Verletzungs- oder gar Tötungsabsicht bestritten und von einer „Panikreaktion“ gesprochen: Eine Gruppe von „acht bis zwölf Vermummten“ habe einen seiner Begleiter angegriffen, da habe er Gas gegeben. Zur Abschreckung. Aber was dann genau geschehen sei, wisse er leider nicht mehr – Erinnerungslücke. 

Mit der Aussage des Zeugen an diesem dritten Verhandlungstag lässt sich das kaum in Einklang bringen. Er habe weder Schläge gesehen noch Vermummte, sagt der Mann. Und außer ihm, seiner Freundin und den anderen beiden Nebenklägern seien keine Demonstrant*innen in der Nähe gewesen. „Für uns war das keine bedrohliche Situation.“ Bis Melvin S. seinen Pick-up gestartet habe.

Rechtsextreme Kontakte und rassistische Botschaften

An der Darstellung des Angeklagten scheint das Gericht allerdings ohnehin schon seine Zweifel zu haben. „Man könnte die Auffassung vertreten, dass die Erinnerungslücke etwas ausgestanzt wirkt und schwer nachzuvollziehen ist“, sagt Strafkammervorsitzende Maja Brommann, noch bevor sie am Mittwoch mit der Vernehmung des Zeugen beginnt – und legt Melvin S. sehr nahe, seine Einlassung doch noch einmal zu überdenken. Auch was seine Haltung zur AfD, zu rechtem und rassistischem Gedankengut angehe. Denn auch die hatte Melvin S. nach Kräften herunterzuspielen versucht – obwohl er einen Newsletter der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ abonniert hatte, per Whatsapp rassistische Bilder verschickte und Nachrichten mit dem bekannten Thüringer Neonazi und Bewegungsunternehmer Tommy Frenck austauschte. Unter anderem.

Der Prozess wird fortgesetzt.
 

 

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