Esoterik
Vor der Erleuchtung kommt der Hass
Das an der Universität Leipzig angesiedelte Else-Frenkel-Brunswik-Institut, das zu demokratiefeindlichen Einstellungen in Sachsen forscht, hat ein neues Jahrbuch herausgegeben. ENDSTATION RECHTS. veröffentlicht hier einen Auszug aus dem Kapitel „Über Entstehung und Erscheinungsformen rechter Esoterik“.

An einem nasskalten Januarwochenende weisen gelbe Schilder der Leipziger Naturheiltage und Esoterikmesse den Weg zum Veranstaltungshaus. Im Saal ist es warm, leises Trommeln ist zu hören und angenehme Düfte liegen in der Luft. Etwa 30 Aussteller*innen präsentieren ihre Dienstleistungen und Produkte. Man kann eine Irisdiagnose durchführen und sich die Karten legen lassen, Massagen werden angeboten, es gibt Klangschalen, Aktivwasser mit Lichtmodul und vieles mehr. Esoterik ist fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Sie gilt vielen als unbedenkliche, private Spinnerei. Handlesen und Kartenlegen sind ein beliebter Zeitvertreib, verbunden mit dem Kitzel, dem Übernatürlichen scheinbar näherzukommen. Während sich Esoterik meist in sanften Worten und Bildern präsentiert, verbergen sich dahinter jedoch nicht selten Ideologien der Ungleichwertigkeit, stereotype Rollenzuschreibungen und antisemitische Welterklärungen. Die spirituelle Sinnsuche kann in rechte und autoritäre Welterklärungen führen. Dieser Beitrag strebt an, die oft unerkannten rechten und antidemokratischen Weltbilder aufzudecken und die Leser*innen für rechte und nach rechts anschlussfähige Konzepte und Begriffe zu sensibilisieren. Dazu werden im Folgenden die Entstehung moderner, westlicher Esoterik und deren rechte Ausprägungen in Deutschland beispielhaft dargestellt.
Zunächst wird erläutert, wie Esoterik für diesen Text verstanden wird und welche Welt- und Menschenbilder damit verbunden sein können. Da es keine allgemeingültige Definition des Begriffs gibt, kann er unterschiedlich gefüllt werden. Anschließend werden die problematischen Aspekte esoterischer Praktiken und Ideen erläutert, wobei insbesondere die Nähe zu Verschwörungsideologien beleuchtet wird. Die Geschichte rechter Esoterik wird skizziert und die demokratie- und menschenfeindlichen Aspekte, die in der Esoterik auftreten können, werden anhand von drei Beispielen vertieft: Zunächst wird die rechte Entstehungsgeschichte des Symbols der Schwarzen Sonne nachgezeichnet. Dieses Symbol wird einerseits in esoterischen Kreisen oft verwendet, wobei seine rechte Geschichte meist bestritten wird. In rechten Zusammenhängen ist es Ausdruck eines esoterischen Nationalsozialismus. Im Text wird aufgezeigt, dass dieser eine Erfindung der Nachkriegszeit ist. Danach wird auf die rechte Anschlussfähigkeit der Anthroposophie eingegangen. Anthroposophie dürfte den meisten Menschen im Zusammenhang mit Waldorfpädagogik oder biologischdynamischen Lebensmitteln bekannt sein. Dass mit dieser Lehre auch rassistisches und menschenfeindliches Gedankengut transportiert werden kann, soll hier erläutert werden. Abschließend wird die Anastasia-Lehre skizziert, die als neue Erscheinung im esoterischen Kosmos vor allem im ökologisch-landwirtschaftlichen Milieu Anklang findet. Die antisemitischen und frauenverachtenden Aussagen dieser Lehre sind unbekannt oder werden ignoriert. Hier zeigt sich exemplarisch, wie esoterische Erzählungen ein Einfallstor für rechte Ideologien sein können.
Auf der Suche nach der verborgenen Wahrheit
Esoterik entstammt dem griechischen Begriff esoterikos (innerlich) und meint das geheime oder verborgene Wissen. Laut des religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdiensts REMID (Möller/Radermacher, 2011) geht es bei esoterischen Praktiken und Vorstellungen mittlerweile nicht mehr um die Weitergabe von Geheimwissen, sondern um das Erkennen einer verborgenen Wahrheit, die Menschen auf eine höhere Bewusstseinsstufe führen soll. Das esoterische Weltbild ist holistisch (ganzheitlich). Darin bilden Welt, Kosmos und Mensch eine untrennbare Einheit und stehen in wechselseitigen Beziehungen. Ein ganzheitlicher Blick kann hilfreich sein und eine verengte Sicht auf die Dinge verhindern. Alle Ansätze, die mit Ganzheitlichkeit vorgehen, bieten aber immer auch eine Anschlussfähigkeit nach rechts. So wird teilweise in der Tiefenökologie dem esoterischen Zweig des Umweltschutzes, der Mensch als ein rein biologisches Wesen unter vielen verstanden, das wenig oder gar nicht in die organisch gewachsene, natürliche Ordnung der Natur eingreifen sollte. Natur wird hierbei nicht als eine gesellschaftlich geprägte Idee verstanden, deren Verständnis sich ständig wandelt.
Innerhalb dieses konservativen Naturverständnisses hat jedes Individuum seinen organisch gewachsenen Platz, den es einzig und allein einnehmen muss, um das große Ganze zu erhalten. Die Ungleichwertigkeit von Menschen oder Diskriminierungen können so als natürlich gerechtfertigt werden. Migration hingegen kann als unnatürlich angesehen werden, da jeder Mensch seinen natürlichen Siedlungsraum hat, den er nicht verlassen sollte.
In esoterischen Vorstellungen existiert neben der materiellen Ebene, die wir mit unseren Sinnen erfahren können, eine geistige oder feinstoffliche Ebene, die nur durch bestimmte Praktiken wie Geistreisen oder Meditation erfahrbar wird. Die gegenwärtige Zeit wird als Phase des Umbruchs gesehen, die in ein neues Zeitalter mündet, in dem der Dualismus von Geist und Materie überwunden sein wird. Grundsätzlich wird diese neue Zeit als eine des höheren Bewusstseins und des friedlichen Miteinanders verstanden. Wie später im Text gezeigt wird, ist diese neue Zeit in rechtsesoterischen Zukunftsvorstellungen jedoch nur weißen oder in rechter Lesart auserwählten Menschen vorbehalten oder wird sich gleich als Wiederkehr eines neuen Nationalsozialismus vorgestellt.
In der esoterischen Weltsicht ist schon jetzt jedes Sein auf beiden Ebenen vorhanden. Diese verschiedenen Schwingungen kommunizieren miteinander und beeinflussen sich. Jedes Ereignis und jeder Zustand ist Ergebnis dieser Interaktion und wird als sinnhaft verstanden. Zufälle existieren demnach nicht. Durch die Hinwendung zur feinstofflichen, geistigen Ebene ist das Verhältnis von Esoteriker*innen zur materiellen Welt, so der Sektenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Matthias Pöhlmann, distanziert und von Misstrauen geprägt. Die Wissenschaft und ihre Institutionen, für die Konzepte wie Feinstofflichkeit in der Regel keine Rolle spielen, würden von ihnen häufig abgelehnt. Esoteriker*innen nähmen für sich in Anspruch, durch spirituelle Bewusstseinsarbeit höhere Mächte erkennen und lenken und damit die materielle Welt beeinflussen zu können.
Nach diesem Weltverständnis können durch entsprechende Gedanken materielle Güter wie Geld angezogen werden. Allerdings sind nach diesem Verständnis auch Krankheiten oder Armut Ausdruck eines fehlenden oder negativen Willens. Die Verantwortung für das irdische Sein liegt beim Einzelnen. Strukturelle Abhängigkeiten und gesellschaftliche Zwänge spielen in der Esoterik kaum eine Rolle.
Da die Esoterik die Ursachen für Probleme beim Individuum verortet, könnten Menschen sich von esoterischen Produkten oder Dienstleistungen spürbare Verbesserungen im Leben oder gar Hilfe bei Krankheiten erhoffen. Tatsächlich behauptet zum Beispiel der Geistheiler auf der Esoterikmesse, Krankheiten auf einer feinstofflichen Ebene behandeln zu können. Wenn dort die Ursachen für die Krankheit gelöst seien, verschwinde die Krankheit, so das Versprechen. Eine nicht eintretende Linderung wird dann dem*der Hilfesuchenden zugeschrieben, da er*sie beispielsweise keinen Zugang zur feinstofflichen Ebene zulasse. Bei Menschen mit schweren Krankheiten, die sich an sogenannte Alternativmediziner*innen wenden, kann sich der Gesundheitszustand dabei sogar verschlimmern. Wunderversprechen schmerzfreier und einfacher Behandlungen finden sich an mehreren Ständen der Messe.
Begründet werden diese Versprechen mit dem Anspruch, über höheres Wissen zu verfügen. Damit grenzen sich Esoteriker*innen von Nicht-Erwachten ab. Aus dem Misstrauen gegenüber der materialistischen Welt und ihren Institutionen und dem Anspruch auf ein geheimes Wissen resultiert eine dualistische Weltsicht, die klar in Schwarz und Weiß, Gut und Böse unterscheidet. Damit rückt Esoterik in die Nähe von Verschwörungserzählungen, sie bilden ein „Zwillingspaar“.
Esoterik und Verschwörungsdenken
Esoterik und Verschwörungserzählungen stimmen in vielen Punkten inhaltlich und strukturell überein: Sie misstrauen häufig Wissenschaft, Politik und Medizin. Sie berufen sich auf ein intuitiv gewonnenes Überwissen, teilen die Welt in Gut und Böse ein und sind offen für alternative Deutungen historischer und aktueller Ereignisse, die angeblich vom Mainstream unterdrückt werden. Dennoch sind sie nicht gleichzusetzen, Pöhlmann stellt einen zentralen Unterschied fest: Im Gegensatz zur oben beschriebenen aktiven Steuerung höherer Mächte in der Esoterik, schreiben Verschwörungsgläubige innerweltlichen Akteur*innen übermenschliche Kräfte zu. Einzelne Personen wie Bill Gates oder George Soros oder eine kleine Gruppe wie die Freimaurer oder fiktive Reptiloide werden für persönliches Leid, aber auch für Ereignisse in der Welt verantwortlich gemacht. Sie erfüllen die Funktion eines Sündenbocks, der eindeutig als Verursacher eines Unglücks identifiziert werden kann.
Die Sozialwissenschaftlerinnen Pia Lamberty und Katharina Nocun sprechen daher von der Esoterik als einem „Motor für Verschwörungserzählungen“. Beide Denkmuster entsprängen dem Unbehagen über eine (scheinbar) unüberschaubar gewordene Welt. Ihr manichäisches Weltbild, das Einteilen in Gut und Böse, und der Glaube an Übersinnliches bzw. der Glaube an Verschwö-rungen könne Struktur bieten und Stress reduzieren vor allem in Zeiten, in denen Menschen, tatsächlich oder imaginiert, Kontrollverluste erleiden. Deutlich wurde das bei den Corona-Protesten. Sie erwiesen sich schnell als „Hotspots von Verschwörungserzählungen“ und zeigten, wie fließend die Übergänge zwischen Esoterik, Verschwörungserzählungen und auch rechtem Gedankengut sein können.
Wie Esoterik als ein Einfallstor für rechte und antisemitische Verschwörungserzählungen dienen kann, zeigt exemplarisch der ideologische Werdegang des Initiators der Leipziger Corona-Proteste. Der Kerzenmacher Karsten Wolf bewirbt auf seinem Blog eine Seminarreihe zu Spiritualität und Körperarbeit und schreibt über Kornkreise. In weiteren Beiträgen scheint er sich als „Lichtarbeiter, Esoteriker und Spiritualisten“ zu sehen. Doch seit dem ersten Lockdown scheint es für ihn nur noch ein Thema zu geben – die Infektionsschutzmaßnahmen der Regierung. In einem Blogeintrag von Ende April 2020 fordert er ein Ende des Lockdowns, bezeichnet die etablierten Medien als gleichgeschaltet und dass Opposition und Kirchen sich von der Regierung einspannen lassen. In einem Leipziger Park veranstaltete er Mitte April 2020 Tanzdemos, zu denen Menschen kamen, die die Pandemie verharmlosten und gegen eine vermeintliche Diktatur protestieren wollten.
Wolf gab im Mai 2020 der Leipziger Volkszeitung ein Interview, in dem er behauptete, die Milliardäre George Soros und Bill Gates würden Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder das Robert-Koch-Institut oder Medien wie den Spiegel oder die Zeit kaufen. Er fügte an: „Wir kritisieren die Leute ja nicht, weil sie Juden sind. Wir kritisieren sie für das, was sie tun“. Wolf verwendet hier klassische antisemitische Narrative, die einerseits pauschal Jüdinnen und Juden eine Verbindung zu Geld und Reichtum unterstellen und andererseits argwöhnen, diese würden einen dunklen Plan verfolgen und Strippenzieher hinter der Pandemie sein. Auch wenn Bill Gates kein Jude ist, wird in seine Person und in sein Handeln etwas Jüdisches projiziert und mit antisemitischen Verschwörungserzählungen verknüpft.
Am 3. Oktober 2022, zum Tag der Deutschen Einheit, ist Karsten Wolf wieder auf der Straße, demonstriert mit Neonazis, Reichsbürger*innen und Querdenker*innen und stellt Lautsprechertechnik mit seinem Lastenrad. Im Februar 2020 träumte er auf seinem Blog noch davon „einen ‚tantrisch inspirierten Gottesdienst‘ zu entwickeln; einen Ort der Menschen, die ihr Dasein auf dem wunderschönen geheimnisvollen Planeten Erde gemeinsam feiern mit Spiritualität, Meditation, Diskussion, Wissenschaft, Berührung und heiliger Sexualität.“ Mittlerweile scheint er nicht mehr davor zurückzuschrecken, gemeinsam mit Personen zu demonstrieren, die eine rassistische und menschenfeindliche Ideologie vertreten.
Während der Corona-Pandemie radikalisierten sich Esoterikgläubige wie Wolf, verbreiteten Verschwörungserzählungen und suchten den Schulterschluss mit der (extremen) Rechten. Doch schon in der ersten Organisation der modernen westlichen Esoterik verbanden sich rassistische mit spirituellen Vorstellungen.
Anthroposophische Impfkritik und Antisemitismus
Die Anthroposophie beinhaltet zwei zentrale und gleichwohl problematische Glaubensansichten: die Wurzelrassen- und die Karma-Lehre. Die Lehre der Wurzelrassen übernahm Steiner von der Theosophie. Er beschreibt die Abzweigung sogenannter dekadenter Rassen, die nicht zur nächsten Stufe aufsteigen könnten. Als solche Abzweigungen machte Steiner unter anderem amerikanische Indigene aus, während es die Europäer*innen in der Entwicklung weiter geschafft hätten. In der vorherbestimmten Entwicklung befänden wir uns von 1413 bis 3573 in der germanisch-nordischen Epoche der Menschheit.
Eine bestimmende Rolle bei der menschlichen Entwicklung spielt für die Anthroposophie die Karma-Lehre, nach der sich die Taten eines früheren Lebens nach der Reinkarnation (Wiedergeburt) auf die aktuelle Existenz auswirken. In dieser Vorstellung sind Eigenschaften wie Aussehen (insbesondere Hautfarbe), Physis und auch die soziale und geografische Herkunft vorherbestimmt und auf gutes oder schlechtes Karma im früheren Leben zurückzuführen. Entsprechend der Wurzelrassenlehre wird die Geburt als weißer Europäer als wertvollste Entwicklungsstufe angesehen. Nach dieser Logik kann der Tod Einzelner oder ganzer Bevölkerungsgruppen als karmische Notwendigkeit gerechtfertigt werden. So verbreitete der esoterische Schriftsteller Hockemeyer in seinem 1996 veröffentlichtem Buch „Jedem das Seine“, dass der Holocaust aufgrund einer karmischen Gerechtigkeit erfolgt sei und wurde dafür wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener verurteilt.
Dieses Werk ist ein Beispiel für eine extrem rechte Interpretation der Lehre Steiners. Die Rezeption der Anthroposophie ist vielfältig und glücklicherweise selten so menschenfeindlich wie bei Hockmeyer. Zudem ist der anthroposophische Kosmos groß. Es muss zunächst unterschieden werden zwischen orthodoxen und liberalen Mitgliedern der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Diese Organisation verwaltet das geistige und materielle Steiner’sche Erbe. Orthodoxe Anthroposoph*innen verteidigen jede noch so kontroverse Aussage des Übervaters. Andere lassen Kritik zu, laden zu offenen Diskussionen und versuchen sich in einer der modernen Zeit angepassten Anthroposophie. Dann gibt es eine große Gruppe, die sich selektiv an Steiners Ideen bedienen oder die im Verkauf biodynamischer Produkte schlicht einen Wettbewerbsvorteil sehen.
Und nicht zuletzt ist da die wohl größte Gruppe: die Nutzer*innen anthroposophischer Produkte. Auffällig war jedoch, dass bei den Corona-Protesten regelmäßig selbsterklärte Anthroposoph*innen zu finden waren. Impfverweigerung ist in dieser Gruppe weit verbreitet und Waldorfschulen regelmäßig „Hauptquartiere von Masernepidemien“. Infektionskrankheiten spielen im anthroposophischen Kosmos eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Kindes. Im Merkblatt Masern der Gesellschaft Anthroposophischer Ärztinnen und Ärzte in Deutschland (GAÄD) heißt es: „Durch das Fieber überwindet das Kind nicht nur die Infektionskrankheit, sondern individualisiert dabei seinen Organismus. Laut Steiner benötigt jedes Kind ein gewisses Maß an Fieber, um sich quasi in seinem neuen Körper richtig einrichten zu können. Krankheit wird als Chance betrachtet, Infektionen hätten einen Sinn, da das Immunsystem reifen könne. Auch die Erkrankung mit Covid-19 soll eine segensreiche Wirkung entfalten – in diesem oder im nächsten Leben. In diesem Zusammenhang wird die Auffassung vertreten, dass der Tod durch eine Krankheit wie Covid-19 dennoch wertvolle spirituelle Impulse für das nächste Leben mit sich bringe. Eine Impfung, so wird argumentiert, würde nicht nur diese vermeintlichen Segnungen zunichte machen, sondern könnte auch zu einer seelischen Verarmung der Menschen führen. Der Sozialdarwinismus rechter Gruppen, die die Corona-Pandemie als natürliche Auslese begriffen haben, wird hier auf eine spirituelle Ebene gehoben. Nicht erst, aber vor allem seit der Corona-Pandemie wird derlei Impfkritik teilweise mit antisemitischen und holocaustrelativierenden Darstellungen verknüpft. Auf Querdenker-Demonstrationen waren gelbe, sogenannte Judensterne mit „Ungeimpft“-Schriftzug zu sehen oder Fotos vom Eingangstor des Konzentrationslagers Auschwitz mit dem Slogan „Impfen macht frei“.
Das dunkle Märchen der Anastasia
Im Gegensatz zur Anthroposophie ist die Anastasia-Bewegung ein neueres Phänomen, bei dem Ökolandbau, Esoterik und rechte Ideologien zusammenkommen. Die Bewegung gründet ihre Ideen auf die zehnteilige Buchreihe „Die klingenden Zedern Russlands“ des russischen Autors Wladimir Megre. Zwischen 1996 und 2010 erschienen die Bände in Russisch, deren deutsche Übersetzungen zwischen 1999 und 2011 veröffentlicht wurden. In diesen Romanen beschreibt Megre, wie er in der sibirischen Taiga mitten in der Natur eine Frau namens Anastasia trifft. Diese kann mit Tieren sprechen, einen Heilstrahl einsetzen, das Wissen der Welt einsehen oder andere magische Fähigkeiten benutzen. In den vielen Gesprächen zwischen Autor und Anastasia erfahren die Leser*innen, dass sie Teil des uralten Volkes der Wedrussen sei und diese Fähigkeiten alle Menschen wieder erlernen könnten, wenn sie sich von der Moderne und der technokratischen Gesellschaft loslösten. Dafür gibt Megre via Anastasia praktische Vorgaben. Jede Familie, bestehend aus Mann, Frau und Kindern, solle einen Hektar Land ökologisch bewirtschaften und sich mit anderen Familien zusammenschließen, um in einer größeren Gemeinschaft zu leben.
Diese Vorgaben klingen soweit erstmal relativ harmlos – erschreckend wird es, wenn Megre seine Weltsicht in den Büchern darstellt. Sie ist durchsetzt mit Verschwörungserzählungen, Antisemitismus, Antifeminismus, Demokratiefeindlichkeit und rechtsesoterischen Reinheitsfantasien. So wird laut Megre die Welt vom Dämon Kratie gesteuert, der mithilfe böser jüdischer Priester seine Macht durch das Wirtschaftsund Gesellschaftssystem erhält und den Rest der Menschheit versklavt. Er erschuf ein System, in dem die Versklavten ihre Unterdrückung nicht wahrnahmen und benannte es nach sich: Demokratie. Es wird die geschichtsrevisionistische These aufgestellt, dass aufgrund ihres schlechten Karmas jüdische Menschen selbst schuld an jahrhundertelanger Verfolgung und auch am Holocaust seien.
Mit der Telegonie wärmt Megre ein längst widerlegtes Konzept der Vererbungslehre aus der Tierzucht auf und überträgt es auf die Menschheit. Nach diesem Konzept prägt der Samen des ersten Sexualpartners das Aussehen weiterer Nachkommen, gleich wer der Erzeuger dieser Nachkommen ist. Als „Beleg“ führt Megre hier schwarze Kinder weißer Eltern an, deren Existenz aus einem früheren sexuellen Kontakt der Mutter oder Großmutter mit einem schwarzen Mann begründet wird. In frauenverachtender Weise führt er aus, dass die Frau als Muse des Mannes zu wirken habe. „Dunkle Kräfte“ des Hohepriesters jedoch würden sich der Frauen bedienen, so dass diese die Männer mittels ihrer Schönheit verführen. Damit verlören diese Frauen ihre Reinheit und Natürlichkeit, Attribute, die sie aufgrund ihres Frauseins von Geburt an natürlicherweise besitzen.
Diese antifeministischen Zuschreibungen von Frauen finden sich in allerlei esoterischen Lehren. Ebenso ist die stereotype und essentialistische Unterscheidung, wonach Frauen zyklisch, sorgend und emotional, Männer hingegen linear, soldatisch und rational sind, Teil vieler esoterischer Weltsichten. Problematisch sind diese Ansichten zum einen, da abweichendes Verhalten von den skizzierten Rollen sanktioniert werden kann. Der weinende Junge oder das zu laute Mädchen werden auch heutzutage oft nicht als normal wahrgenommen. Zum anderen kann die Benachteiligung von Frauen und sogar sexualisierte Gewalt als etwas Natürliches oder Ganzheitliches legitimiert werden, etwa wenn dem aktiv-aggressiven Mann die passive Frau gegenübergestellt wird. Und nicht zuletzt kann diese Sichtweise Geschlechter außerhalb des binären Mann-Frau-Raums unsichtbar machen oder sogar als unnatürlich oder verderbend bezeichnen.
Rechtsesoterische Landnahme
Nach den Veröffentlichungen der ersten Bücher in Russland bildeten sich Lesezirkel und Anastasia-Stammtische, wo über die praktische Anwendung der Lehren diskutiert wurde. Schließlich wurden auch mit Unterstützung der russischen Regierung erste Familienlandsitze nach dem Vorbild geschaffen – bis Mitte 2019 sind bereits um die 300 solcher Familienlandsitze in Russland entstanden. Inzwischen geht man von etwa 20 solcher Landsitze oder Projekte in Deutschland aus. Die Ideen Megres finden hierzulande auch im bio-ökologischen und alternativen Milieu Anklang. Ein Beispiel dafür ist die Wurzelküche, ein veganes Bio-Restaurant in der als alternativ geltenden Dresdner Neustadt. Auf ihrer alten Website „gesundes-mittag.de“ lud die Besitzerin, Christiane Langhammer, noch bis mindestens 2022 zu regelmäßigen Arbeitstreffen für Interessierte ein, um an der Gestaltung eines Neuen Dorfes bei Dresden mitzuwirken. Beim Neuen Dorf handelt es sich um einen Entwurf von biologisch und regional wirtschaftenden Gemeinschaften im gleichnamigen Buch von Ralf Otterpohl. Darin hebt er als ein Beispiel dieser Gemeinschaften die Familienlandsitze der Anastasia-Bewegung hervor.
Auf der alten Website von Langhammer finden sich weitere Bezüge zur Anastasia-Bewegung. Dort listete sie verschiedene Initiativen auf, die in Sachsen ein Neues Dorf gründen wollten. Eine dieser Siedlungen, der Lebensraum e.V., vertreten durch den Reichsbürger Robert Köhn, nahm 2018 an einem Wettbewerb teil, der Initiativen auszeichnen sollte, die die Stadt Dresden lebenswerter machen. Köhn und sein Projekt einer Selbstversorgersiedlung standen kurz davor, 200.000 Euro Fördergelder vom damaligen Bundesforschungsministerium zu erhalten. In dem Wettbewerb konnten die Bürger*innen Dresdens über die Projekte abstimmen. Der Lebensraum e.V. belegte bis kurz vor Ende der Abstimmung den 2. Platz. Die Berichterstattung über die Anastasia-Bezüge des Projekts führte zu einem Aufruf, das Projekt abzuwählen. Die daraufhin gestiegene Beteiligung an der öffentlichen Abstimmung verdrängte das Projekt von den vorderen Plätzen.
Vor dem Hintergrund der in den Büchern vermittelten Ideologie finden sich in der Anastasia-Bewegung wenig überraschend viele Reichsbürger*innen, Esoteriker*innen und Menschen mit eindeutig rechtsextremer Vergangenheit wieder. Auch auf den nach außen hin eher harmlos wirkenden Anastasia-Festen treten völkische Referent*innen wie Frank Willy Ludwig auf und verbreiten unwidersprochen geschichtsrevisionistische Thesen und die NS-Rassenlehre. Ludwig betreibt die Website Urahnenerbe Germania, mit der er sich explizit auf Himmlers SS-Ahnenerbe bezieht. Hinter harmlos klingenden Phrasen von Liebe und Bräuchen versteckt der selbsternannte „Ahnenforscher“ Ludwig seine Zivilisationskritik. Sein Paradies ist ein völkisch-naturverbundenes und Demokratie und Menschenrechte bezeichnet er als „Unrat“.
Die rechts-esoterische Anastasia-Bewegung siedelt gezielt im ländlichen Raum, um dann vor Ort in Vereinen, Gemeinden und Bildungseinrichtungen aktiv ihre menschenverachtenden Ansichten zu verbreiten. Die Absicht dahinter ist klar: eine Diskursverschiebung nach rechts auf allen gesellschaftlichen Feldern zu erreichen. Schritt für Schritt soll die vorherrschende Gesinnung im ländlichen Raum völkisch dominiert werden, um den rechten Traum einer bäuerlich geprägten ethnisch-homogenen Gesellschaft zu verwirklichen. Umso wichtiger ist es daher für demokratische Kräfte, strukturschwache Gebiete nicht als ungestörte Rückzugsräume für rechte Landnehmer*innen zu überlassen. Es gilt, die demokratischen Prinzipien und Werte aktiv zu verteidigen und dem rechts-esoterischen Einfluss entgegenzuwirken, um eine fortschreitende Radikalisierung in ländlichen Gemeinden zu verhindern.
Auf dem Büchertisch der Esoterikmesse liegen die Anastasia-Bände direkt neben den Büchern von Jan Udo Holey. Nicht jede*r, der*- die im Büchertisch wühlt, ist Neonazi. Wer aber dort mit einem Buch mit Aromatherapie beginnt, hat danach ein Werk voll extrem rechter Passagen in Reichweite. Scheinbar unpolitische Ideologiefragmente wie Natürlichkeit, Ganzheitlichkeit oder die Ahnen sind anschlussfähig an menschenverachtende Positionen und Gruppen. Nicht zuletzt die Proteste in der Corona-Pandemie haben gezeigt, welch regressive Ideen im vordergründig links-alternativen Milieu stecken. Klangschalen, bunte Kleidung und Meditationsangebote dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter der Oberfläche spiritueller Deutungsangebote gewaltsame Umsturzfantasien und menschenfeindliche Hetze lauern kann.
Der Text stellt einen Auszug aus dem Kapitel von Florian Teller vom Verein FARN da, hier geht es zur Publikation, die im PDF-Format heruntergeladen und auch als Printausgabe bestellt werden kann.